„Rennen Sie, so schnell es geht!“
Ein Jahr nach den ersten öffentlichen Protesten gegen die Wahlfälschung des Diktators Alexander Lukaschenko in Belarus erscheint, unterstützt vom deutschen PEN, im Berliner Verlag Das Kulturelle Gedächtnis ein Band mit „Stimmen der Hoffnung“. Alina Lisitzkaya hat darin Aufzeichnungen, Gedichte und Texte der belarussischen Freiheitsbewegung zusammengetragen. Zwei Euro pro Exemplar gehen an gemeinnützige belarussische Organisationen.
Wir haben zu diesem Anlass zwei im vergangenen Jahr entstandene Texte ausgewählt, die sich auf unterschiedliche Weise mit der belarussischen Hauptstadt Minsk auseinandersetzen. Der erste stammt von dem 1984 geborenen Sasha Filipenko, der im Diogenes Verlag zuletzt den Roman „Der ehemalige Sohn“ veröffentlichte, der zweite von Alhierd Bacharevic. Von ihm erschien in der Berliner Edition Fototapeta zuletzt der Essay „Sie haben schon verloren“. Der Band wird am heutigen Montag, den 9. August, um 19 Uhr im Berliner Pilecki-Institut (Pariser Platz 4A) bei freiem Eintritt vorgestellt.
Sasha Filipenko
Es gibt eine U-Bahn, sie fährt aber nur fünf Tage die Woche. Dasselbe gilt für das mobile Internet. Covid gibt es nicht, aber immer öfter doch. Die Straßen sind voller Mist – wegen der vielen Bullen. Die besten Restaurants sind zu, die Galerien auch. Wenn Sie beim Morgenkaffee gern aktuelle unabhängige Zeitungen lesen – unterstützen Sie ihre Publikation und Verbreitung. Wenn Sie eine Theateraufführung sehen möchten – bringen Sie die Schauspieler selbst mit (die hiesigen wurden entlassen). Wenn Sie Journalist sind – werden Sie nicht ins Land gelassen. Wenn Sie studiert haben – auch nicht. Wenn Sie ein unbegabter Propagandist oder ein Streikbrecher sind – werden Sie mit offenen Armen empfangen, und weil wir ein in Staatengemeinschaften integrierter Staat sind, brauchen Sie auch kein Visum.
[Alina Lisitzkaya: Stimmen der Hoffnung. Zweisprachige Ausgabe. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021, 240 S., 22 Euro]
Wenn Sie nicht wissen, welche Kleidung Sie einpacken sollen – entscheiden Sie sich für etwas Sportliches, und denken Sie an die Daunenjacke – kalt ist es bei uns nicht, aber auf den Pritschen schläft man damit weicher. Wenn Sie gern Fahrrad fahren – es gibt viele Radwege, aber Sie gelten dann als Faschist. Warum? Diese sinnlose Frage gibt es in Belarus längst nicht mehr. Wenn Sie einer Person mit einer Kamera oder einem leeren Blick begegnen – das sind Silowiki (Geheimdienstmitarbeiter, d. Red.) in Zivil. Die sind harmlos, sie fressen einem aus der Hand.
Die mit der Zunge im Arsch sind die Fußballer der Nationalmannschaft. Oder, wenn sie etwas größer sind, berühmte Hockeyspieler. Mit rot-grünen Fahnen darf man spazieren gehen, mit weiß-rot-weißen nicht. Verwechseln Sie das nicht! In Jogginghosen und mit Gewehr herumlaufen darf man, in Kleidern und mit Blumen nicht. Graffiti malen ist verboten, Gedenkstätten zerstören nicht. Drogen gibt es in der Stadt keine – die hat alle die Omon (eine Spezialeinheit der Miliz, d. Red.) gefressen. Wenn Sie ein Mann in aggressiver Stimmung anpöbelt – leisten Sie keinen Widerstand, das ist ein Polizist. Wenn neben Ihnen ein Kleinbus anhält – rennen Sie, aber nicht im Trab, sondern so schnell Sie können.
Jedenfalls, willkommen in Minsk, haben Sie keine Angst und gehen Sie viel spazieren – vielleicht werden Sie gar nicht festgenommen – die Gefängnisse sind alle voll.
Alhierd Bacharevic
Ich habe einmal geschrieben, dass ich meine Heimatstadt liebe und hasse. Jetzt kann ich sagen: Minsk, ich bin stolz auf dich. In diesen Tagen bist du für mich zur schönsten Stadt der Welt geworden. Schön, aber auch furchtbar. Du riechst nach Freiheit, deine Stimme ist das geschundene, aber doch lebendige und zu allem entschlossene Schlagen eines gegen alle Widrigkeiten großen und starken Herzens. Ich hatte vergessen, dass du so sein kannst; wohl, weil du noch nie so gewesen bist. So weiß und so rot, so schmerzlich schön und aufrichtig, so vertraut.
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Ich hatte befürchtet, dass ich das nie erleben würde. Nun, wie auch immer es ausgehen wird: Wir haben den Höhepunkt erlebt. Minsk wird nie mehr sein wie zuvor. Das vergangene Minsk war eine Stadt, in der sich die unsichtbare, scheue Liebe in den Ritzen zwischen Angst, Stumpfsinn, zwischen Schweigen und schallender Niedertracht versteckte. Im neuen Minsk herrschen nun schon seit Tagen Liebe und Freiheit.
Heute fürchte ich in erster Linie um die, die ich liebe. Morgen werde ich noch tausend andere Dinge fürchten, Myriaden von Ängsten kreisen um unsere Köpfe wie törichte Träume. Mögen wir den Faschismus endlich besiegen. Jeder trägt bei, was er kann. Bei uns und überall.
Irgendwann kehrt Minsk in einen Zustand der Normalität zurück. Eine Stadt ist ja nun mal Stadt, weil in ihr nicht nur die unterschiedlichsten Menschen leben, sondern auch Misstrauen, Habgier, Albträume, Dummköpfe, Probleme und das ganze alltägliche Durcheinander. Doch ich glaube daran, dass wir von Zeit zu Zeit in diesen Straßen unerwartet einem Schatten unserer Selbst begegnen werden: Jener Selbst, die hier einst auf den Spuren der Freiheit und Wahrheit liefen und einander wortlos verstanden – und dann werden wir uns anlächeln: ein besonderes, furchtbares und wunderschönes Lächeln. Danke, Vergangenheit, dass du uns schon vor langer Zeit von der Euphorie geheilt hast.
Es gibt sie nicht, und alles kann noch viel Schlimmer werden. Danke für diesen irgendwo in der Kehle wiedergefundenen Urinstinkt, der uns in dieser furchtbaren und schönen Stadt errettet. Danke für die Liebe, die Wunder vollbringt. Danke den Journalisten und dem medizinischen Personal, den Freiwilligen und den Passanten, ob mutig oder nicht, ob stark oder schwach, danke, ihr Frauen und Männer. Ich danke euch, Minskerinnen und Minsker.