Ukrainisches Filmarchiv: „Der Krieg hat den Wunsch befördert, die eigene Geschichte besser zu verstehen“

Seine Jubiläumsfeierlichkeiten zum 60. Geburtstag eröffnet das Arsenal, benannt nach dem bekanntesten Film des ukrainischen Regisseurs Oleksandr Dowschenko, am 8. Juni mit dem einwöchigen Symposium „Archival Assembly“. Das Symposium spiegelt auch die neue Ausrichtung des Arsenal – Institut für Film und Videokunst (seit 2008) wider, das sich seit dem Rückzug der letzten Gründungsmitglieder Erika und Ulrich Gregor im Jahr 2004 stärker mit archivarischen Praktiken, der Rolle von Archiven bei der Neubewertung von Filmgeschichte sowie als Patron für Filmemacherinnen und Filmemachern, die an der Peripherie des Kinos und über Landesgrenzen hinweg gearbeitet haben, beschäftigt.

Zu den Gästen des zweiten „Archival Assembly“ gehören Olena Goncharouk und Maria Glazunova vom Oleksandr Dovzhenko Film Centers in Kiew, dem staatlichen Filmarchiv der Ukraine.    

Frau Goncharouk, Sie sind seit zwei Jahren die Direktorin des Oleksandr Dovzhenko Film Centers in Kiew. Wie leitet man ein Filmarchiv in Kriegszeiten?
Olena Goncharouk: In den vergangenen 15 Monaten haben sich unsere Prioritäten verschoben. Gleich in den ersten Tagen nach dem Angriff haben fünf unserer 45 unserer Kolleginnen und Kollegen das Land verlassen, zwei von ihnen mussten an die Front. Glücklicherweise war unsere Infrastruktur im Zentrum nicht von den Angriffen betroffen, es gab Strom und Internet.

Olena Goncharouk leitet seit 2021 das Oleksandr Dovzhenko Film Center in Kiew.
Olena Goncharouk leitet seit 2021 das Oleksandr Dovzhenko Film Center in Kiew.
© privat

So konnten wir in den ersten zwei Monaten das Zentrum mit Minimalbesetzung betreiben, um unter anderem mit dem Kulturministerium Evakuierungspläne für unsere Sammlung zu erarbeiten. Diese Verhandlungen führten letztlich aber zu nichts. Die Sammlungen, wozu auch Dokumente und Filmdevotionalien gehören, lagern weiterhin in unserem Gebäude.

Da Kiew von russischen Truppen fast eingekesselt war, schien es sicherer zu sein, die Sammlungen vor Ort zu halten. Ein kleines Team war also mit der Kontrolle des Archivs beschäftigt, während sich eine andere Gruppe von zu Hause aus um den Vertrieb und das Kuratieren von Filmprogrammen kümmerte. Zeitweise fühlte es sich an, als würde man über ein Minenfeld rennen, während rechts und links die Garanten einschlagen. Aber wir haben keine andere Wahl, als immer weiterzulaufen.

Maria Glazunova vom Oleksandr Dovzhenko Film Center in Kiew.
Maria Glazunova vom Oleksandr Dovzhenko Film Center in Kiew.
© privat

In welcher Form haben Sie in den vergangenen 15 Monaten die ukrainische Öffentlichkeit in die Arbeit des Filmarchivs einbezogen?
Goncharouk: Maria Glazunova war für die Kommunikation noch außen verantwortlich, sie hat an Petitionen und Solidaritätsaufrufen gearbeitet – nicht nur für das Archiv, sondern für das ganze Land. Zusammen mit der Stadt hat sie in der U-Bahn von Kiew auch Filmveranstaltungen organisiert, die den Menschen, die in den Stationen ausharrten und teilweise auch lebten, Mut machen sollten.

Maria Glazunova: Wir haben vor allem Animationsfilme gezeigt, weil sich unter den Menschen, die in den Metrostationen Schutz suchten, sehr viele Kinder befanden. Sie hatten Angst, viele von ihnen waren aber auch schlicht gelangweilt. Sie können sich nicht vorstellen, wie langweilig es für einen Fünfjährigen ist, während der Luftalarme Stunden in einem U-Bahnhof zu verbringen.

Animationsfilme machen einen beträchtlichen Teil des ukrainischen Filmerbes aus, oder?
Goncharouk: Ja, wir haben sehr viele Animationsfilme, insgesamt umfasst unsere Sammlung 7000 Titel. Das ist wenig für ein nationales Archiv, aber das Dovzhenko Film Center wurde erst 1994 gegründet. Davor gab es kein Archiv für das ukrainische Kino. Die Filme der großen ukrainischen Regisseure wie Oleksandr Dowschenko oder Dsiga Wertow wurden seit 1926 im staatlichen Filmarchiv Russlands, bei Gosfilmofond, eingelagert.

Wir haben erst seit 1994 die Ressourcen, um das ukrainische Filmerbe zu studieren und zu sammeln, darunter die Produktionen der vier staatlichen Studios. Einige von diesen Filmen sind heute leider unwiederbringlich verloren, weil die Filmrollen unter schlechten Bedingungen gelagert wurden.  

Das Gebäude des Dovzhenko Film Centers und die Archivmagazine sind von dem Krieg bisher nicht betroffen?
Goncharouk: Nur die Fensterscheiben wurden in Mitleidenschaft gezogen, das Gebäude selbst blieb unbeschädigt.

Glazunova: Am 24. Februar haben wir zum Jahrestag des Kriegsbeginns unser Kino mit 300 Plätzen wieder in Betrieb genommen, das sich in der sechsten Etage des Zentrums befindet – weswegen es wegen der häufigen Fliegeralarme lange zu riskant war, dort Veranstaltungen durchzuführen. Aber die Rückkehr des Kinos bedeutete für uns nach einem Jahr Krieg auch so etwas wie eine Rückkehr zur Normalität.

Das Dovzhenko Film Center steht seit einem Jahr auch seitens der ukrainischen Politik unter Druck. Ihre Aufgaben wurden neu festgelegt, die Filmbestände unterstehen nun einer nebulösen staatlichen „Filmagentur“. Bedeutet das, dass die Regierung den Film in Kriegszeiten nicht als kulturellen Wert, sondern nur als Propagandamittel versteht?
Die Gründe dafür sind ganz einfach: Korruption und Dummheit. Das kommt in jedem Land vor. Das Dovzhenko Film Center ist in einer sehr begehrten Immobilie im Zentrum von Kiew untergebracht, die für Investoren interessant ist.

Aber ihre Wahrnehmung der Politik ist zu beschränkt, um die Erfolgsgeschichte des Zentrums für eigene Zwecke zu benutzen: als ein Fenster in die Öffentlichkeit, wenn etwa Sean Penn unser Archiv besucht. Stattdessen behauptet man, dass andere unsere Aufgaben effektiver erledigen können. Das ist alles.

Wie baut man eine nationale Filmsammlung auf, gewissermaßen das kulturelle Gedächtnis, wenn die wichtigsten Regisseure im staatlichen Archiv eines anderen Landes liegen?
Glazunova: Im Zuge unseres VUFKU-Forschungsprojekts (Ann.: In der VUFKU lief zwischen 1922 und 1930 die staatliche Filmproduktion der Ukraine zusammen. In dieser Zeit entstanden 140 Filme) stießen wir auf viele ukrainische Filmkopien in den Archiven anderer Länder, unter anderem in Deutschland, aber auch in Japan. Und natürlich bei Gosfilmofond. So gelang es uns, ukrainische Filme, die wir verloren geglaubt hatten, wieder zu restituieren.

Goncharouk: Wir hatten damals noch einen persönlichen Austausch mit einigen Mitarbeitern von Gosfilmofond, die die Sammlung sehr gut kannten. Das Archiv operiert sehr geheimniskrämerisch, was Informationen über die Filme betrifft, aber dem damaligen Leiter des Filmzentrums gelang es, auch mit der finanziellen Hilfe des Kulturministeriums, einige Filme, die zur Ukraine gehören und die von ukrainischen Regisseurinnen gemacht wurden, zurückzuholen. Das war allerdings vor 2014. In den vergangenen drei Jahren gab es überhaupt keinen Austausch mehr zwischen den Archiven.

Das zentral gelegene Oleksandr Dovzhenko Film Center weckte Begehrlichkeiten von Investoren.
Das zentral gelegene Oleksandr Dovzhenko Film Center weckte Begehrlichkeiten von Investoren.
© Oleksandr Dovzhenko Film Center

Das heißt, die Sammlung des Dovzhenko Film Centers weist große Lücken in der ukrainischen Filmgeschichte auf?
Goncharouk: Das ist leider richtig. Aber wir konnten auch bedeutende, verloren geglaubte Stummfilme wiederentdecken: Vor einigen Jahren machten wir zum Beispiel Kopien von Boris Glagolins „Kira Kiralina“ aus dem Jahr 1928 im Bundesfilmarchiv in Berlin und im rumänischen Archiv ausfindig.

Aus diesen Kopien rekonstruierten wir die heute vollständigste überlieferte Version. Dank der Arbeit unserer Historiker ist es uns gelungen, viele solcher Leerstellen zu füllen – selbst wenn das physische Material in anderen Archiven lagert.

Hat der Krieg in der Bevölkerung das Verhältnis zur eigenen Geschichte, nicht nur der Filmgeschichte, verändert?
Goncharouk: Den Ukrainern ist klarer geworden, dass die Frage des Filmerbes an unseren kulturellen Ursprüngen rührt. Der Krieg hat den Wunsch, die eigene Geschichte besser zu verstehen – und sich diese auch wieder anzueignen – befördert. In vielen Museen wurden die Informationstafeln von ukrainischen Künstlern ausgewechselt, die lange als russische Künstler ausgegeben wurden.

Das ukrainische Narrativ ist kompliziert. Allein in den vergangenen hundert Jahren war die Ukraine erst eine unabhängige Republik, dann eine sowjetische, heute sind wir ein unabhängiges Land.

Wir müssen den post-sowjetischen Geist hinter uns lassen, um unsere Identität zu finden. 

Olena Goncharouk

Glazunova: In den vergangenen Kriegsmonaten ist unsere Arbeit mit dem Dovzhenko Film Center für viele Menschen, besonders junge Menschen, sehr wichtig geworden. Wir erarbeiten seit über einem Jahr ständig neue Filmprogramme, weil wir spüren, dass die Menschen hungrig nach ukrainischen Inhalten sind. Sie wollen alles über sich und ihre Geschichte erfahren – durch die Kunst.

Darunter befinden sich ganz normale Ukrainer:innen, die nicht mal besonders kulturaffin sind. Wir kümmern uns seit 15, 20 Jahren darum, die Namen von ukrainischen Regisseuren bekannter zu machen, aber jetzt wird unsere Arbeit erstmals wirklich gesehen und wertgeschätzt. Heute sprechen wir zur ganzen Welt. Und die Welt ist endlich bereit, uns zuzuhören.

Ein Dialog zwischen ukrainischen und russischen Künstler:innen ist momentan nahezu unmöglich. Wie gehen Sie mit Regisseur:innen in Ihrer Sammlung um, die Russland zu lange zu nahe standen oder die Sie nicht mehr als solidarisch mit der ukrainischen Sache sehen? Vor einem Jahr wurde zum Beispiel Sergei Loznitsa aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen.
Die Antwort auf diese Frage möchte ich lieber vertagen auf die Zeit, wenn dieser Krieg vorbei ist und die Aggressoren sich für ihre Taten verantworten müssen. Wir werden diese Filme nicht verbannen, vielleicht können wir sie sogar zu Forschungszwecken benutzten. Das ukrainische Leben war sehr lange von russischen Einflüssen geprägt.

Vielleicht müssen wir erst verstehen, wie es so weit kommen konnte, damit sich so etwas in Zukunft verhindern lässt. Zu Loznitsa möchte ich nur so viel sagen: Er hatte seine eigene Agenda, als er „Maidan“ und „Donbass“ drehte. Wir haben ihn lange als einen ukrainischen Filmemacher gesehen, aber er versteht den größeren Kontext unserer Geschichte nicht.

Die Ausstellungsräume im Oleksandr Dovzhenko Film Center.
Die Ausstellungsräume im Oleksandr Dovzhenko Film Center.
© VOLODYMYR SHUVAYEV

Archive helfen, die Vergangenheit zu verstehen, die Arbeit des Dovzhenko Film Centers ist gerade aber vollkommen mit der Gegenwart beschäftigt. Wie verändern sich dadurch Ihre Aufgaben?
Goncharouk: Unser wichtigster Auftrag lautet im Moment, unsere Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine bestimmte Mentalität durchzieht alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in der Ukraine – in der Politik, der Kultur, der Wirtschaft, der Verwaltung, im Militär. Es herrschte noch lange ein post-sowjetischer Geist vor, ganz anders als etwa in den Staaten des Baltikums.

Es ging um die Bewahrung von Privilegien. Diesen Geist müssen wir hinter uns lassen, um unsere Identität zu finden. Wir sind also zerrissen zwischen dem Gestern und dem Morgen. Der Zugang zu den Filmen ist darum unerlässlich, es ist heutzutage die wichtigste Aufgabe eines jeden Archivs.

Ein Kollege hat das kürzlich so formuliert: Wir müssen die Leben unserer Filme so lange wie möglich erhalten. Das betrifft aber mehr als nur die Filmrollen, es geht auch um die Geschichten von Menschen, unsere Werte – und unsere technischen Errungenschaften. Die ukrainische Filmgeschichte reicht bis in Zeit von Lumière zurück; wir wurden dann aber durch den Eisernen Vorhang von der Welt abgeschnitten. Nun müssen wir uns daran erinnern, dass die Ukraine auch Teil einer größeren, einer europäischen Identität ist. Mikhail Kaufman und Dsiga Wertow sind nicht nur russische oder ukrainische Regisseure, sie sind zum Beispiel auch jüdische Filmemacher. Die Kaufman-Brüder wurden in Polen geboren, standen in ihren Jahren in der Ukraine auf dem Zenit ihres Schaffens. Das macht sie zu Regisseuren des Weltkinos.

Welchen Stellenwert hat die Kultur in einem Land, das um sein Überleben kämpft?
Goncharouk: Seitdem wir wieder regelmäßig Veranstaltungen anbieten, ist unser Haus voll. Es gibt nicht nur eine große Nachfrage nach Kultur, die Leute versuchen auch zu verstehen, warum wir uns im Krieg befinden. Dieser Krieg ist kein Selbstzweck. Filmemacher:innen, Musiker:innen, Küstler:innen, Autor:innen suchen in ihrer Kunst einen Sinn, warum wir einen so hohen Preis für unsere Unabhängigkeit zahlen. Sobald wir aber die Kultur für den Krieg aufgeben, verlieren wir unsere Leute – nicht nur physisch, sondern auch geistig.