Im Leistungssport braucht es mehr Empathie für Kinder
Der Einzelwettbewerb im Eiskunstlauf der Frauen dürfte der unwürdigste Wettkampf bei den Olympischen Spielen in Peking werden. Mit der Entscheidung des Internationalen Sportgerichtshofs (Cas), dass die 15 Jahre alte russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa antreten darf, obwohl sie im vergangenen Dezember positiv auf das verbotene Mittel Trimetazidin getestet wurde, gerät diese Veranstaltung zu einem unwürdigen Schauspiel. Mit einer Teenagerin in der Hauptrolle, die einem leidtun muss.
Jede Zuckung, jeder Fehler Walijewas wird gedeutet werden als Folge der Unruhen in den vergangenen Tagen. Für den Fall, dass sie trotz der Umstände im Kurzprogramm und in der Kür glänzt, wird im Vordergrund natürlich der Zweifel stehen. Das Internationale Olympische Komitee hat bereits angekündigt, dass es sowohl die Blumen- als auch die Medaillenzeremonie aussetzen wird, sollte die Russin zu einer Medaille laufen oder gar den Olympiasieg holen. Weshalb die Konkurrentinnen inständig auf Patzer Walijewas hoffen.
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Die Reaktionen auf das Cas-Urteil waren erwartbar. Das Nationale Olympische Komitee Ruslands feiert das Urteil als Sieg und fordert die Landsleute auf, die Daumen zu drücken – als patriotischen Akt. Sarah Hirshland, Geschäftsführerin des Olympischen Komitees der Vereinigten Staaten, sieht die Entscheidung des Gerichts als Entscheidung gegen den sauberen Sport und eine Duldung russischen Unrechts. Die lautesten Beiträge kommen in dieser sportlichen Affäre von den politischen Großmächten.
Der Fall trägt zu einer weiteren Zuspitzung dieser politischen Spiele bei und weckt Erinnerungen an die düsteren Zeiten des Leistungssports während des Kalten Krieges. Sportler:innen galten insbesondere bei den Olympischen Spielen in den 80er-Jahren als Frontfrauen und -männer des jeweiligen Systems.
Dubiose Trainerin
Große Erfolge in der Leichtathletik, beim Schwimmen oder beim Turnen wurden ausgeschlachtet als Beleg der Überlegenheit des jeweiligen politischen Systems. Und obwohl es auch in den westlichen Staaten abartige Formen der Leistungssteigerung gab und unerlaubte Methoden zum Einsatz kamen, ist längst erwiesen, welchen Schaden in der Sowjetunion und in der DDR jungen Athlet:innen zugefügt wurde, um sie zu Höchstleistungen zu pushen. Bis hin zu einer kürzeren Lebenserwartung.
Auch der Fall Walijewa reicht weit über die Vorgänge in Peking hinaus. Es stellt sich die Frage, welche Mittel einer Nation, den entsprechenden Funktionären und Trainerinnen recht sind, um ihre Athleten an die Weltspitze zu bringen. Obwohl Walijewa als junge Frau, die noch keine 16 Jahre alt ist, rechtlich als „geschützte Person“ gilt, fehlt es im Umfeld offenbar an jeglichem Empfinden, dass sie als so junge Sportlerin besonders schützenswert ist.
Das Umfeld der Sportlerin ist dubios. Haupttrainerin Eteri Tutberidse wurde 2020 vom Weltverband ISU zur Trainerin des Jahres ernannte. Auch weil ihre Athletinnen in jungen Jahren schier Unmögliches präsentieren können. Gleichzeitig sind Karrieren bekannt, die kurz nach Erreichen der Volljährigkeit beendet sind – weil der Druck zu funktionieren gewltig ist. Filipp Shvetskiy ist der medizinische Betreuer Walijewas. Bei den Sommerspielen in Peking 2008 hatte er russischen Ruderern unerlaubte Mittel verabreicht, wie die Sportschau berichtete.
Der Skandal am vermeintlichen Dopingfall Walijewas ist die Tatsache, dass Kinder und Teenager auch in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts beim täglichen Training Menschen ausgesetzt sind, die verdächtig sind, das Kindeswohl zu gefährden. Es wäre wünschenswert, wenn die Aufmerksamkeit in diesem Fall weg von der Athletin ginge – hin zu jenen, die eine Manipulation initiieren. Und mit Erfolg ihr unmenschliches Verhalten rechtfertigen.