Völlig aufgelöst
Eine Bande, die Mobiliar neu arrangiert, um dessen Besitzer*innen in den Wahnsinn zu treiben, sowie Figuren aus einem alten Comic-Heft, deren Existenz sich nicht länger auf bedrucktes Papier beschränkt – mit Letzterem eröffnet der Comic „Enigma“ (Cross Cult, 264 S., 30 €) eine weitere Erzählungsebene über die Teil der Handlung seienden Lesenden und Verfassenden.
Zunächst lässt das an Grant Morrisons Mitte und Ende der achtziger Jahre erschienene Serien „Doom Patrol“ und „Animal Man“ denken. So machte dieser mit „Doom Patrol“ sowie deren Gegnern, der Brotherhood of DaDa in der Geschichte von den Bildern, die Paris aufaßen, eine Referenzhölle nach der anderen auf, und bei „Animal Man“ brachte er sich selbst als Figur in die Handlung ein, um mit der von ihm geschriebenen Figur in Dialog zu treten … gut, das hatte unter anderem Cary Bates bei „Flash“ bereits in den 1970ern gemacht.
Vom Goldfischglas zum Bibelkreis
Peter Milligan und Duncan Fegredo, farblich empathisch inszeniert von Sherylin Van Valkenburgh, geht es jedoch um etwas anderes. Die Autor*innen nutzten diese wenige Jahre zuvor eine neue Erzählweise im Superheldencomic markierenden Versatzstücke für ein ihnen wesentlich wichtiger erscheinendes Anliegen: das homosexuelle Coming Out ihrer Hauptfigur. Nicht nur innerhalb des Genres eine unübliche Darstellung von Protagonist*innen, die nicht allerorten auf Gegenliebe stieß.
Zur Handlung: Der einmal wöchentlich mit Freundin Sandra Sex habende Michael treibt wie ein Goldfisch auf dem Rücken in der Glaskugel, die sein Leben umschließt. Wohl sieht er jede*n, und jede*r sieht ihn, mehr Miteinander muss jedoch nicht sein.
All das geht seinen Gang bis, ja, bis Figuren aus einer von ihm als Kind gelesenen Comicserie zum Leben erwachen und wiederholt Gräueltaten begehen. Die schon bald nicht weniger grauenhaft geahndet werden, und zwar von der titelgebenden Figur seiner Lektüre, dem rätselhafte Enigma, wie und was könnte er auch mit diesem Namen Anderes sein.
Zusammen mit dem Schöpfer der Serie geht Michael nun in eine Art Exegese, denn so weit ist der dem Unheil zu Grunde liegende Comic nicht von der heiligen Schrift entfernt, liefert er doch den immer mehr ausartenden Taten seiner Figuren die Grundlagen und stellt somit auch einen Schöpfungsmythos dar.
Dass Gott hier weiblich inkarniert, tut der im Comic thematisierten Vater-Sohn-Dichotomie nebst Opferbereitschaft von Gott und Jesus bis Abraham und Isaak keinerlei Abbruch, ist diese doch als Kritik einer überkommenen patriarchalischen Geschichtsschreibung inszeniert. Folgerichtig werfen diese Positionierungen ein Schlaglicht auf mögliche Darstellungen abseits misogyner Natur, die nicht den sonst üblichen Genre-Gepflogenheiten entsprechen.
Auch nutzen die Autor*innen ihre weiblichen Figuren nie als bloße Triebfedern für männliches Handeln, und die Beinah-Vernichtung Envelope Girls durch Enigma lässt trotz ihrer Missetaten Mitgefühl für die seitens der Titelfigur erlittene Gewalt aufkommen. Die von Enigma eingesetzte Brutalität steht in keinerlei Verhältnis zu dem eher spielerisch-anarchistisch angelegten groben Unfug der abgestraften Protagonistin.
Genau diese Milde gegenüber weiblichen Figuren war zu jener Zeit unüblich. Erinnert sei an all die misshandelten oder toten Frauen jener Tage, die, unter anderem entwürdigend hineingestopft in Kühlschränke von kosmischen Wächtern wie Green Lantern fuel for revenge lieferten; suchen Sie mal nach der von Comic-Autorin Gail Simone initiierten Website „Women In Refrigerators“. Jedenfalls, Gott ist in „Enigma“ weiblich, wie auch die damalige Chefin des „Enigma“ verlegenden DC-Sublabels Vertigo, Karen Berger.
Lorem Ypsheft oder: der Platzhalter als Gimmick
Die Ausgangslage in „Enigma“ findet statt an der „… Art von Ort, an dem man sexuelle Erfahrungen mit seinen Eltern macht und irgendwann wen erschießt.“ Unter Verwendung dieses gleich zu Beginn der Handlung etablierten Fundaments erblicken die Leser*innen ein von großer Leere umgebenes Farmhaus und dessen so definierte Einsamkeit. Sich mit dem Bildtext duettierend erscheint sodann eine für versiegende Quellen stehende Brunnenruine, die ihren Schatten nicht voraus, sondern zurück in eine unschöne Vergangenheit wirft.
Dass im Verlauf der Handlung zudem kontinuierlich Echsen verspeist werden, lässt an die zugeschriebene halluzinogene Wirkung des Rückensekrets der Tiere denken, sofern daran geleckt wird. Denn selbst über die Traumsequenzen hinaus erinnert der Zeichenstil Fegredos, nicht nur im Zusammenspiel mit Van Valkenburghs Farben, an die expressive Kunst eines Horst Janssen.
[Mehr zu einigen Berührungspunkten von Horst Janssen und Comics gibt es in diesem Tagesspiegel-Artikel.]
Daran nicht ganz unschuldig ist die automatische Assoziierung von Janssen mit Bill Sienkiewicz, der ihm stilistisch nah ist. Letzterer verhalf überdies im US-Comic der Achtziger und Neunziger Jahre dem Jugendstilmuster zu neuer Popularität, welches von Fegredo ebenfalls in „Enigma“ eingesetzt wird.
Und drogengesättigten Blickes, alle Muster durchdringend, ist der verrätselte Enigma zu lesen: Als ein beständiger Wunsch von Auflösung nach dem im Selbst stets Dräuenden, Schwelenden. Die Figur verkörpert einen Platzhalter für unterdrückte Sehnsüchte, wie auch fadenscheinige Lippenbekenntnisse, die erst durch einen gleichgeschlechtlichen Kuss der über sich selbst verhängten Schmallippigkeit im alltäglichen Mainstream von Einerlei und Klein-Klein zu entrinnen vermögen, und vielleicht sogar einer zwanghaft gelebten Dualität.
[Kürzlich wurde Bill Sienkiewicz’ Avantgarde-Comic „Stray Toasters“ erstmals auf Deutsch veröffentlicht – hier gibt es Oliver Ristaus Rezension des Bandes.]
Zumindest stellt sich der Sachverhalt bei Michael so dar, der sich in einen dann doch nicht so fiktionalen Titelcharakter, von Held zu sprechen scheint unangemessen, verliebt. Das alles als völlig normalen Entwicklungsprozess inmitten einer vor Spannung eskalierenden Geschichte abzubilden, ist der Verdienst dieses Comics und macht ihn heute noch genauso relevant wie bei seinem ersten Erscheinen.
Hoffentlich wird der in Zusammenarbeit mit Ted McKeever von Milligan ebenfalls für Vertigo kreierte „The Extremist“ in ähnlicher Weise veröffentlicht, und die weirde X-Men-Interpretation Milligans, „X-Statix“ – allerdings für Marvel und unter anderem mit Michael Allred verfasst – gleich dazu. Das wäre übrigens für eine andere und völlig zu Unrecht in Vergessenheit geratene Vertigo-Serie wie John Smiths „Scarab“ ebenfalls angezeigt, der, was das den Poesiegehalt der Betextung angeht, locker mit einem Ausnahmeschreiber wie Milligan mithalten kann.
[Vor knapp drei Jahren wurde das DC-Label Vertigo eingestellt, mehr dazu in diesem Tagesspiegel-Artikel.]
Übrigens, die deutsch-italienische Web- und Print-Comic-Künstlerin Sarah Burrini hat bereits zwei Mal mit dem Briten Peter Milligan für US-amerikanische Comics zusammengearbeitet: Zum einen 2019 für die sechste Ausgabe der Ahoy-Comics-Anthologie-Reihe „Edgar Allan Poe’s Snifter Of Terror“, und 2021 bei Bad Idea im Rahmen der dritten Ausgabe von „The Lot“.
[Mehr über Sarah Burrinis Werk gibt es in diesem Artikel unseres Autors.]
Beide Storys sind, wie eben auch „Enigma“, empfehlenswert. Eventuell verbesserte das noch die eh schon profunden Deutsch-Kenntnisse des Autors, who knows. Die am Ende der „Enigma“-Gesamtausgabe platzierte Autorenbiografie Milligans merkt dazu Folgendes an: „Er wohnt in London und hat wohl hin und wieder Probleme mit deutschen trennbaren Verben“ – was dann allerdings Jammern auf hohem Niveau ist.