Ukrainisches Kriegstagebuch (101): Es kommt einmal der Tag, dann ist der Krieg vorbei
12.-13.1.2023
Obwohl ich als DJ regelmäßig auf Partys unterwegs bin, habe ich den Eindruck, dass ich selbst verlernt habe, richtig zu feiern. Mir ist einfach die Lust vergangen. In der Pandemiezeit habe ich mein Studio wochenlang nicht verlassen und dann kam der Große Krieg in meine Heimat und es ist fast unmöglich geworden, an etwas anderes zu denken, abzuschalten.
Vielleicht genau deswegen habe ich zugesagt, als meine Kollegin Miriam, mit der wir vor einigen Jahren zusammen bei Disko Kosmopolit aufgelegt haben, mich eingeladen hat, am Freitag ihr Gast-DJ im SO36 zu sein – ich will prüfen, ob ich’s noch kann. Ich werde an dem Abend ausschließlich ukrainische Musik spielen, habe ich angekündigt. Und alle Berliner, die mir zum Geburtstag gratulieren möchten, könnten zu meinem DJ-Set kommen, denn eine andere Party plane ich nicht.
Am 12. Januar wache ich auf und stelle fest, dass nach dem Spendenaufruf, den ich am Abend davor auf Facebook gepostet habe, die gewünschte Summe über Nacht bereits gesammelt wurde – ein besseres Geburtstagsgeschenk hätte ich mir nicht wünschen können! Nun kann ich einen Generator für die Charkiwer Rennbahn bestellen.
Meine Mutter meinte, sie würde für mich meinen Lieblingsapfelkuchen backen – ein Grund mehr, nach Potsdam zu fahren! Trotz der vorbeiratternden Züge höre ich, wie unter dem U-Bahn-Bogen auf der Schönhauser Allee eine Melodie erklingt, die mir bekannt vorkommt, gespielt von einem Straßenmusiker auf dem Keyboard… Woher kenne ich sie? In wenigen Sekunden komme ich drauf, das ist doch „Obijmy“ von Okean Elzy, wahrscheinlich die bekannteste ukrainische Band der vergangenen 20 Jahre.
„Obijmy“ heißt auf Ukrainisch „umarme mich“. 2022 haben Coldplay das Lied gecovert, und es gab auch noch dieses Video von Swjatoslaw Wakartschuk, dem Sänger der Band, wo er den Song mit einem Streichquartett Mitte April auf den Trümmern vom Palast der Arbeit in Charkiw performte. Dort im vierten Stock war das Studio von Zhadan i Sobaky, wo wir für unser Album „Fokstroty“ im Sommer 2021 den Kinderchor aufgenommen haben…
Geschrieben vor neun Jahren, bleibt „Obijmy“ höchst aktuell, allein schon wegen der ersten Zeile. „Es kommt einmal der Tag, dann ist der Krieg vorbei”, lautet sie. Dennoch ausgerechnet diesen Song auf einer Berliner Straße zu hören, wo man eher an „Wonderwall“ von Oasis oder Leonard Cohens „Hallelujah“ gewohnt ist, ist irgendwie surreal.
Meine Mutter ist in der Stadt Nowoschachtinsk im Donbass geboren, nach Charkiw ist sie mit ihren Eltern erst in den 1960ern gezogen. Seit 27 Jahren in Deutschland, hat sie hier die Sprache gelernt, ihr Interesse für die Ukraine hielt sich in Grenzen.
Aber in den letzten Monaten ist es anders, bei unserem Gespräch geht es hauptsächlich um die Ukraine sowie Ukrainer – ihre Schulfreundin ist mit der Familie aus Charkiw nach Bayern geflüchtet. Sie kümmert sich um sie, so gut wie es aus der Ferne geht, und engagiert sich für die Kriegsopfer, die in Potsdam gelandet sind. Früher war meine Mutter jahrelang bei der Jüdischen Gemeinde als Sozialarbeiterin tätig, sie kennt sich aus, sie kann und will behilflich sein.
Abends in der Pizzeria um die Ecke von mir höre ich zufällig das Gespräch eines Kunden mit der Frau an der Theke. Ich entschuldige mich und frage, ob einer von ihnen tatsächlich DakhaBrakha erwähnt hat. Ja, bestätigen die beiden lächelnd, ich habe richtig gehört, sie trafen sich beim Konzert von DakhaBrakha. Sie findet die ukrainische Band großartig, sagt die Frau, sie hat sie schon bestimmt acht oder neun mal live erlebt.
Auf dem Weg ins SO36 am nächsten Abend schaue ich bei Space Meduza vorbei, der ukrainischsten Bar Berlins, dort spielt Mavka, eine Kiewer Sängerin, die in ihren Songs Folklore und Elektronik zusammenmischt. Heute wird sie von drei Ausnahmemusikern begleitet. Ich wäre gern länger geblieben, ukrainische Volkslieder im Krautrock- und Funk-Gewand klingen fantastisch, doch ich muss leider weiterziehen.
Noch nie war ukrainische Musik in Berlin so präsent wie heute, denke ich während ich meinen DJ-Koffer durch die Straßen von Kreuzberg rolle. Wenn ich jedoch über die Gründe nachdenke, fällt es mir schwer, mich darüber zu freuen.
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