Taschen-Bildband über die Alpen: Von tollkühnen Kletterern und der Erfindung des Wintersports

Vermutlich hatte ein Reiseführer namens Murray recht, als er um die Wende zum 20. Jahrhunderts sagte, dass ein erheblicher Teil jener, die den Aufstieg zum Mont Blanc geschafft hätten, Menschen mit einer gestörten Psyche seien. Dieser Eindruck jedenfalls kann aufkommen, wenn man sich die ersten Seiten des Taschen-Bildbandes „The Alps 1900. A Portrait in Color“ ansieht, in dem das Zitat von Murray überliefert ist.

Das Buch zeigt die schneebedeckten Gipfel des 4800 Meter hohen Mont Blanc, geradezu absurd hohe Eiszacken. Und noch viel absurder sind die Menschen darauf, ausgerüstet mit Stöcken, Eispickeln, einem Seil – und Kleidung, wie man sie eben vor über 120 Jahren trug. Wie haben sie es damit dort hoch geschafft?!

Der Bildband wirft einen ehrfurchtsvollen Blick auf die Alpen.
Der Bildband wirft einen ehrfurchtsvollen Blick auf die Alpen.
© PhotoDiscovery/Former Walter Collection

Niemand würde sich heute so an die Besteigung des Mont Blanc heranwagen. Aber die Zeiten um die Jahrhundertwende waren andere, die Leute liebten die Alpen und das mit ihnen verbundene Wagnis. Das Wandern und Bergsteigen sowie der Wintersport faszinierte mehr und mehr Menschen im Alpenraum.

Sabine Arqué und Agnès Couzy haben sich in dem 600 Seiten langen und 6,4 Kilogramm schweren Wälzer dieser frühen Faszination für das Hochgebirge gewidmet. Die Auswahl der Bilder ist nicht nur schön und umfangreich – seien es die spektakulären Gebirgszüge des Matterhorns, mondäne Urlaubsorte wie Chamonix oder die idyllischen Gewässer am Rande der Alpen wie den Vierwaldstättersee, den Lago Maggiore oder den Genfer See – es werden Aufnahmen gezeigt, die bislang von den Alpen kaum zu sehen waren – zumindest nicht in Farbe. Wurde doch der erste Farbfilm von Kodak erst im Jahr 1935 entwickelt.

Das Matterhorn ist mit knapp 4500 Metern einer der höchsten Berge der Alpen.
Das Matterhorn ist mit knapp 4500 Metern einer der höchsten Berge der Alpen.
© PhotoDiscovery/Former Walter Collection

Das Zauberwort heißt Photochrome. Diese werden mittels eines Flachdruckverfahrens zwischen Fotografie und Lithografie produziert. Schwarz-Weiß-Negative können durch lithografische Abzüge in Farbe angefertigt werden. Der Erfinder, Hans Jakob Schmid, war Maschinenmeister der Zürcher Druckerei Orell Füssli, die für die Vermarktung eine Tochtergesellschaft gründete: Photochrom Zürich (die spätere Photoglob AG Zürich). Einzeln oder in Alben und dann als Postkarten angeboten, wurden die Photochrome in den Tourismushochburgen verkauft. Fast ein Viertel der 11 000 Photochrome des letzten Photoglob-Katalogs (1911) sind den Alpen gewidmet. Das Faszinierende beim Betrachten der Bilder ist, dass nie klar scheint, ob es sich um ein Foto oder eine Malerei handelt.

Bei Photochromen ist nie ganz klar, ob es sich um ein Bild oder ein Foto handelt.
Bei Photochromen ist nie ganz klar, ob es sich um ein Bild oder ein Foto handelt.
© PhotoDiscovery/Former Walter Collection

Zudem ist „The Alps 1900“ ein Zeugnis von der Geschichte des Wintersports. Das Buch zeigt auf, wie der einst gefürchtete Winter zum Erlebnis wird. „Man erträgt die Kälte mit Freuden, um Schlittschuh zu laufen, Curling zu spielen, die Geschwindigkeit von Bobs und Schlitten zu genießen und die noch unhandlichen, doch vielversprechenden Skier zu entdecken“, heißt es in der Einleitung.

Die Wintersaison wurde, so mutmaßt man, von dem St. Moritzer Hotelier Johannes Casper Badrutt erfunden. Als er 1863/64 sieht, dass seine besten Kunden bei Herbstbeginn abreisen, bietet er ihnen an, Weihnachten in seinem Hotel zu verbringen, auf seine Kosten und mit einer Garantie für Schnee und Sonne. Schon bald betreiben die Engländer das Rodeln auf der Eisbahn oder das Bobfahren wie in Grindelwald, während in Davos der erste Curlingclub entsteht.

600 Seiten umfasst das Buch.
600 Seiten umfasst das Buch.
© PhotoDiscovery/Former Walter Collection

Die neuen Wintersportarten machen Furore. „Mitten im Winter in ein Gebirgsland zu fahren! Viele Leute in Frankreich sagen, dafür müsse man verrückt sein. Aber hier sehe ich, dass seit drei, vier Jahren auch all diese Engländer, Amerikaner und manchmal auch Franzosen kommen, um das zu tun, was man ‚Wintersport‘ nennt. Man muss andere Wörter erfinden, will man das Paradies beschreiben“, wird der Fotograf Jacques-Henri Lartigue aus dem Jahr 1913 zitiert.

Fortan wird der Alpenraum schnell bevölkert. Etliche Tourismusorte schießen aus dem Boden. Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert sind sämtliche wichtige Alpengipfel bezwungen, einschließlich der 69 Viertausender. Hinzu kommt der Skisport, der Fahrt aufnimmt, obwohl vor 1930 noch kein Gipfel mit einer Bahn erschlossen ist.

Am Ende aber ist das Buch vor allem ein Zeugnis von der Schönheit der Alpen, ihren ehrfurchterregenden Gipfeln, ihren schneeweißen Gletschern (die seit 1900 mehr als die Hälfte ihrer Fläche verloren haben) und der Menschen, die sich von ihnen magisch angezogen fühlen.

The Alps 1900. A Portrait in Color. Hg. Sabine Arqué, Agnès Couzy. Hardcover, 29 x 39,5 cm, 6,40 kg, 600 Seiten. 150 Euro. Taschen.

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