Porträt meiner Mutter als Kind

Versprich mir, dass du mir glaubst, sagt Nelly zu Marion: „Ich bin deine Tochter“. Die beiden Mädchen sind acht Jahre alt, sie begegnen sich im Wald, bauen eine Hütte zusammen, ein Tipi aus Ästen, das sie mit bunten Herbstblättern bestecken. Kommst du aus der Zukunft?, fragt Marion nach. Nein, Nelly kommt nur von dem Waldweg, der vom Haus ihrer Großmutter hierher führt. Sie ist mit ihren Eltern da, um das Haus leer zu räumen. Die Großmutter ist gerade im Altersheim gestorben.

Ein Märchen, ein Traum. Aber einer mit hellwachen Sinnen: Stell dir vor, du triffst deine eigene Mutter als Kind und verbringst Zeit mit ihr. Das ist die Grundkonstellation von Céline Sciammas Kammerspiel „Petite Maman – Als wir Kinder waren“, das auf der Berlinale 2021 Premiere feierte.

Die französische Regisseurin, die sich in Filmen wie „Water Lillies“ (2007) und „Tomboy (2011) schon öfter der Frage genähert hat, wie es ist, jung zu sein, begibt sich erneut auf Augenhöhe mit Kindern. Vor allem mit dem Kind in jedem von uns, jenem versteckten, verstörten Wesen, das eine Trauer in sich trägt, von dem es meist selber nicht weiß, woher sie rührt.

Die Kamera ist nahe bei Nelly und Marion (die Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz). Sie registriert ihre Ernsthaftigkeit beim Spielen, das Unverstellte der Mädchen, ihre Ahnungen und Ängste, ihr Giggeln, wenn die Crépes aus der Pfanne durch die Küche schleudern, die Momente der Befremdung, des Verstehens.

Auch die Erwachsenen nimmt sie aus der Perspektive der Mädchen wahr. Nellys Mutter als 31-Jährige (Nina Meurisse), die um die eigene Mutter trauert, im Haus ihrer Kindheit alte Sachen durchstöbert und am anderen Morgen einfach abgereist ist, der Schmerz ist offenbar groß. Nellys Vater (Stéphane Varupenne), dem die Tochter auf den Kopf zusagt, dass er nicht etwa vergisst, was sie ihm sagt, sondern einfach nicht richtig zuhört. Und Marions Mutter – Nellys Großmutter –, die am Stock geht und oft im Bett liegt. Eine Rückenansicht im Halbdunkel, eine Frau, die sich entzieht. Nelly hatte im Altersheim den Stock an sich genommen. Die Dinge bleiben, die Menschen verschwinden.

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Vieles in diesem Film ist schlicht bezaubernd. Wegen der Leichtigkeit, mit der die Regisseurin die Zeitebenen ineinanderschiebt, der mühelos zwischen den Welten wechselnden Montage und den feinen Fäden, die sie zwischen früher und heute spinnt. Nelly läuft aus dem Haus, durchquert den Wald und betritt mit Marion deren Zuhause. Es ist die gleiche Gartenpforte, es sind die gleichen Zimmer, die gleichen Kacheln im Bad, die gleiche grüne Küchentapete. Sie kommt zum Vorschein, als Nellys Vater den Schrank zur Seite rückt.

Aber was wäre, wenn die Vergangenheit die Gegenwart verschluckte? Nellys Erleichterung, als sie nach ihrem ersten Ausflug in die Kinderzeit der Mutter den Vater im Jetzt wieder antrifft, teilt man sofort. Erst als sie sicher sein kann, dass ihre Welt nicht verschwindet, macht sie dem Mädchen Marion ihr Geständnis.

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So kreiert Sciamma einen imaginären Raum, einen Schwebezustand, der Freiheit bietet, aber auch Schutz, bleibt der Raum doch verlässlich begrenzt. Hier können Mutter und Tochter sich als Freundinnen begegnen, Kakaoinseln in die Milch rühren oder sich verkleiden und ein Liebespaar spielen – Marion ist die Gräfin, Nelly der Polizeiinspektor –, das sich verliert, sich wiederfindet und sich erneut trennen muss. Ein Spiel im Spiel, in eigener Sache.

Hier in diesem Raum, so die Regisseurin 2021 im Tagesspiegel, sei ein „Dialog über die Fiktion von Familie“ möglich. Im Grunde beruhe Familie auf Rivalität, aber sie habe einen Ort erfinden wollen, an dem wir unseren Liebsten als Individuen begegnen können. Wir bräuchten nur hineinzuklettern. „Erinnern kann auch bedeuten, neue Erinnerungen zu schaffen“, sagt Sciamma.

Sciammas Film entführt einen auch an Orte ihrer eigenen Kindheit

Eine Voraussetzung dafür, eine Voraussetzung von Kunst überhaupt besteht darin, die eigene Kindheit nicht zu vergessen. Sciamma, Jahrgang 1978, ist in der Ville Nouvelle von Cergy-Pontoise aufgewachsen, am Rand von Paris. Der Wald, in dem Nelly und Marion ihre Hütte errichten, ist der Wald, in dem sie selber als Kind spielte. Ein gewöhnlicher und doch mythischer Schauplatz. Am Ende paddeln die beiden im Schlauchboot zur Steinpyramide auf der Oise, einer Skulptur von Dani Karavan, die nur vom Wasser aus zu erreichen ist. Noch so ein verwunschener Ort, eine magisch-realistische, etwas beängstigende Höhle. Dazu erklingt die einzige Musik in „Petite Maman“, Elektronik mit Kinderchor und Versen von Sciamma, „La Musique du Futur“.

Sonst ist es recht still in diesem großen kleinen, 70 Minuten kurzen Film, der die Dimensionen der Zeit aus den Angeln hebt. Manchmal rauscht der Wind durch die Bäume oder ein Gewitter grollt in der Ferne. Und so wie die Regisseurin ihren 2019 in Cannes gefeierten Kostümfilm „Porträt einer Frau in Flammen“ – der Liebesgeschichte zwischen einer Malerin und ihrem Modell – als Manifest des weiblichen Blicks verstanden wissen möchte, wird „Petite Maman“ zur Hommage an den fragenden, wissenden kindlichen Blick. An das Universum des Kindseins.

Spielen gegen die Trauer. Nelly (Jósephine Sanz, l.) trifft Marion (Gabrielle Ganz) und merkt, es ist ihre Mutter als Kind.Foto: Alamode

Noch etwas, das einen bezaubert: die kurzen, präzisen Dialoge, die kleinen Beobachtungen. Etwa, wenn der Vater seinen Bart abrasiert und Nelly ihm dabei hilft. Auch eine Form der Häutung, einer neuen Sicht auf das alte Selbst. Anfangs geht Nelly durch die Zimmer im Altersheim, verabschiedet sich von den anderen Bewohnerinnen, hilft beim Kreuzworträtsel. Gedreht wurde während einem der Lockdowns in Frankreich, andere Enkelkinder und Angehörige konnten sich nicht verabschieden, als Menschen in der Pandemie starben. Der Schmerz darüber schwingt ebenfalls in den Bildern mit.

[Petite Maman – Als wir Kinder waren” läuft ab Donnersta in 15 Berliner Kinos (überwiegend OmU).]

Auf der Autofahrt zum Großmutter-Haus lädt Nelly die Mutter am Steuer zum Aperó ein, hält ihr Erdnussflips und eine Safttüte mit Strohhalm hin, umarmt sie von hinten. Eine kurze, ungemein zärtliche Geste. Später sagen die beiden einander Adieu, und wieder ist es ein Nachspielen, ein Ersatz, denn Nelly glaubt, sich nicht richtig von der Großmutter verabschiedet zu haben.

Immer wieder geht es darum, das Rätsel der anderen zu lösen und die Verstrickung zu verstehen, die Frage nach Schuld und Versäumnissen. Mutter und Tochter flüstern im Bett im Dunkeln, aber die Mutter wehrt ab. Ist doch Kinderkram, wonach Nelly fragt. Gut, dass bald die achtjährige Marion auftaucht, mit der sie diesen „Kinderkram“ klären kann. Hast du mich gewollt?, will Nelly wissen? Und Marion will wissen, ob ihre bevorstehende Operation gut gehen wird: Ihr droht das gleiche Gebrechen wie ihrer humpelnden Mutter.

Schön, dass wir uns kennengelernt haben, versichern die Gräfin und der Inspektor einander im Rollenspiel. Die Trauer teilen, nicht allein sein – in den schönsten Momenten von „Petite Maman“ ist das Kino ganz bei sich.