Neue Ausstellungen im Haus am Waldsee: Über das trügerische Gefühl von Ordnung

Gleich zwei Soloschauen auf einmal, das ist wohl ein Novum in der fast 80-jährigen Ausstellungshistorie des Hauses am Waldsee. Mit Bruno Pélassy und davor Tolia Astakhishvili zeigte die neue Direktorin Anna Gritz zuletzt Einzelschauen, die um Extra-Positionen „verlängert“ waren. Im Kontrast zu den labyrinthischen, quasi das Künstler:innen-Ego auflösenden Ansätzen nun also zwei konzentrierte Soli: Die Malerei von Carol Rhodes in der oberen Etage und die Medienkunst von Jenna Bliss im Erdgeschoss des Hauses überzeugen auch im Zusammenklang.

Beide Künstlerinnen mischen Fakt und Fiktion, und beide favorisieren auf ihre Art die Multiperspektive: Es gibt – buchstäblich oder im übertragenen Sinn – keinen Fluchtpunkt in ihren Werken.

Bliss wie Rhodes nehmen eine distanzierte Perspektive ein, erklärt Anna Gritz, „die sich weniger in Details verfängt und größere Muster erkennen lässt. Das Moment der räumlichen Höhe verbindet die Ausstellungen, das mitunter trügerische Gefühl von Kontrolle und Ordnung“, so Gritz, die Jenna Bliss’ Ausstellung kuratiert hat.

Blick auf das größere Muster

Bliss wurde 1984 in der Wolkenkratzerstadt New York geboren und lebt bis heute dort. Die Ereignisdichte der Metropole, die Wall Street, die Börsenkrisen zeichnen sich in ihren Werken ab. Super-8-Impressionen vom Financial District laufen auf einem Hochformat-Monitor im Eingangsbereich, jeweils zwei Clips sind übereinander angeordnet.

Hellgrüne Texteinblendungen wirken erst wie Dialoge, entpuppen sich aber als Phrasen aus der Wirtschaftssprache („Intervention ist das eigentliche Wesen des Marktes“) und wechseln sich mit Sätzen ab, die während der Weltwirtschaftskrise 2008 öfter zu hören waren: „Gisele nimmt jetzt nur noch Euro“. „Eurodollars“ heißt die Videocollage von 2024.

„Professional witnesses“ von 2021 besteht aus acht Monitoren, auf denen 9/11-Überlebende von Erlebnissen in und um die Twin Towers berichten. Die Rettungssanitäterin, der Feuerwehrmann oder der Wall-Street-Broker werden von Schauspieler:innen dargestellt. Wie Akteure einer Benetton-Kampagne posieren sie vor neutralem Studiohintergrund: United Colors of Armageddon.

Überlebende von 9/11

Bliss’ Themen sind bitterernst, zugleich bedient sie sich der Sprache der Unterhaltungsindustrie. Ihr neuer Film „True Entertainment“ simuliert eine gescriptete Reality-TV-Show über eine fiktive Kunstgalerie und deren Teilnahme auf der Art Basel. In einer Szene entdeckt der Galerist das um ein Exponat gepinselte Herz, das vorher nicht da war. Auch die jungen Mitarbeiterinnen sind irritiert, zumal das Zeichen aus echtem Blut besteht. Das erlösende Wort kommt vom Galeristen: „Punkrock. Ja, ja, ja!“, das passe zu Lola, der gehypten Künstlerin. Alles paletti in der Messekoje.

Punkrock yeah!

Carol Rhodes, die Malerin vom oberen Stock, hatte nach ihrem Akademieabschluss 1982 in Glasgow die Kunst zeitweilig aufgegeben. Ob sie vom Kunstbetrieb – wie Bliss ihn satirisch darstellt – abgestoßen war, wissen wir nicht. Ein knappes Jahrzehnt lang engagierte sich die Schottin vor allem als politische Aktivistin, Anfang der 1990er nahm sie ihre Malerei wieder auf. 2018 starb die Künstlerin 59-jährig.

Detail aus Carol Rhodes Bild „Flood Plain (Breach)„ von 2005.
Detail aus Carol Rhodes Bild „Flood Plain (Breach)„ von 2005.

© Courtesy Lord Marland of Odstock, Foto: Frank Sperling

Rhodes’ in verhaltenen Ölfarbtönen auf eher kleinen Holztafeln gemalten Bilder zeigen postindustrielle Areale aus der Vogelperspektive oder ebenso aus der Höhe gesehene karge Landstriche, die von Straßen und Kanälen durchzogen sind. Menschen sieht man nicht. Vielleicht sind die Tankstellen auf den Gemälden stillgelegt, vielleicht arbeitet und lebt in den dargestellten Werks- oder Wohngebäuden niemand mehr.

Rhodes, die ihre Ansichten stets aus verschiedenen Vorlagen komponierte, sät mit oft kleinen Details Zweifel am Wirklichkeitsgehalt der zwischen Realismus und Abstraktion oszillierenden Bilder.

Echte Landschaft oder Science Fiction?

Straßenverläufe brechen abrupt ab, Schatten wirken unstimmig, Formen sind vieldeutig. Das unheimliche Bild „Coal“ (2008-09) könnte Kohlehalden zeigen und dahinter einen ausgedehnten Kieshaufen. Oder haben wir es mit der Vision einer außerirdischen Landschaft zu tun?

„Rhodes hat sich zumindest intensiv mit Science-Fiction beschäftigt“, bestätigt Beatrice Hilke, die Kuratorin der Ausstellung. Andererseits habe sich die Künstlerin die Beschaffenheit ihrer Sujets genau imaginiert, „ob das Gras feucht oder trocken, ob der Boden sandig oder lehmig ist“.

In den grasbewachsenen Boden vor dem Ausstellungshaus hat Jenna Bliss verschiedene Super-8-Filmstreifen eingegraben (um die Negative später mitsamt der Erosionsspuren als C-Prints zu vergrößern). Es sind Aufnahmen von US-Flaggen, die sich mit der Geschichte des Hauses am Waldsee verbinden.

Bis 1945 Dienstvilla des Vizepräsidenten der Reichsfilmkammer, wurde das Haus nach dem Krieg zur Kunstinstitution, mit amerikanischer Unterstützung. Kultur und Politik sind ineinander verstrickt, immer und überall. Wie zukünftige Generationen aus zeitlicher Distanz heutige Ausstellungen ideologiekritisch bewerten, wüsste man gern.