Meine Enttäuschung über das Fusion Festival
1. Juli 2022
Ich kann mich gut an den ersten Auftritt beim Fusion Festival erinnern, 2008, um vier Uhr nachts. Wir freuten uns riesig, dort auftreten zu dürfen, waren aber, wie sich herausstellte, unvorbereitet – wussten zum Beispiel nicht, dass es auf dem Gelände kaum Empfang gibt. Am späten Abend mit mehreren Autos angereist, haben wir einander dann stundenlang in der Nacht gesucht – fast wie bei „Stranger Things“, bloß statt Monster tauchten aus der Dunkelheit tanzende Freaks auf, Bühnen gab’s wie Pilze nach dem Regen … Es war ein Ausflug in eine Parallelwelt, ein lustiges Abenteuer auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflugplatz.
2014 kehrten wir zurück, diesmal durften wir auf der Hauptbühne spielen, dahin hat uns ein Shuttle gebracht. Alles war gut organisiert und sogar Internet gab’s gelegentlich – als wir auf unseren Auftritt warteten, summte plötzlich mein Telefon. Es war eine E-Mail – eine Einladung, im Herbst drei Konzerte in der Ukraine zu geben. Ich las die Mail meinen Kollegen vor. Sie waren vorsichtig begeistert, da es sich zwar toll angehört hat, jedoch haben alle mitbekommen, dass im Donbass ein Krieg ausgebrochen war.
Nichtsdestotrotz sind wir im Oktober hingeflogen und hatten drei unvergesslichen Konzerte in Kiew, Charkiw und Dnipro mit Serhij Zhadan und seiner Band gespielt. In Kiew tanzte zu unserer Musik eine Schönheit, die mir nach dem Auftritt sagte, dass sie noch vor ein Paar Wochen unsere Alben in den Schützengräben vom Donbass gehört hat. Dann wurde sie rot, lächelte und meinte, sie sei mit meinen Songs aufgewachsen. In Charkiw übernachteten wir in einem schicken Hotel direkt am Freiheitsplatz, neben der Uni, die ich in den Neunzigern besucht habe. Erst zwei Monate vor unserem Gastspiel wurde hier das Lenindenkmal gestürzt. Auf dem Weg nach Dnipro haben wir auf der Autobahn Militärfahrzeuge gesehen. Die Stimmung war besorgt.
Renaissance der ukrainischen Literatur und Musik
In den Jahren danach bin ich oft in die Ukraine gereist. Ich hatte alte, aber auch neue Freunde da, mich interessierten ukrainische Literatur und Musik, die nach der Revolution der Würde ihre Renaissance erlebten. 2022 hatte ich auch vor, nach Kiew zur Buchmesse zu fahren und dann in Charkiw und Mariupol aufzutreten. Ich hoffe, ich werde es nachholen können. Was definitiv für die nächsten Jahre aus meinem Kalender verschwindet, ist die Fusion.
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Mit Verspätung erreichte mich neulich der Festival-Newsletter vom Mai – und es ist eine Enttäuschung, die zwar in den letzten Monaten nicht die erste und wahrscheinlich nicht die letzte ist, sich aber trotzdem bitter anfühlt. Schon beim Satz „Zwei Jahre hat uns jetzt eine Pandemie das Festival und vieles mehr versaut und jetzt, wo wir davon ausgehen, dass wir diesen Sommer wieder ohne Corona-Restriktionen feiern werden, überfällt Putin die Ukraine“ ist mir übel geworden (Scheiße, gerade wollten wir mit der Party loslegen, und dann macht Putin Krieg). Aber es kam noch schlimmer.
„Mit jeder Waffenlieferung wird ein Konflikt befeuert, in dem es, abgesehen von der Rüstungsindustrie, keine Gewinner:innen geben wird. Was ist die Alternative zu einem vielleicht jahrelangen zerstörerischen Krieg? Verhandlungen und Diplomatie! Nur am Verhandlungstisch kann ein Ende dieses Krieges erzielt und die vollständige Zerstörung von Teilen der Ukraine abgewendet werden“, schreiben die Veranstalter, die den Festivalbesuchern die Welt erklären möchten. Am Ende steht, dass die Fusion trotz alledem gefeiert wird, hurra! Ukraine, nieder mit den Waffen und ab an den Verhandlungstisch! Wir tanzen, schreibt uns kurz, wenn ihr den Krieg beendet habt! Jetzt Licht aus, die Party kann beginnen!
Hey, du, empathielose Fusion mit deiner Politikexpertise auf Kindergarten-Niveau: Die Ukrainer verabschieden sich. Es fällt uns schwer, zu den russischen Bands in deinem Programm zu tanzen, während russische Raketen unsere Städte zerstören. Irgendwann war es schön mit dir, aber die Realität hat sich verändert und du scheinst den Kontakt dazu verloren zu haben. Goodbye, Fusion!