Ludwig Tieck zum 250. Geburtstag: Der wilde Romantiker
„Ein rechter Büchernarr“ sei Ludwig Tieck gewesen, schreibt Arno Schmidt, selbst ein manischer Leser, in seinem Hörspiel „Funfzehn“. Er spricht dem Dichter darin vor allem eines ab: Romantiker zu sein. Tatsächlich gilt Tieck, Romantiker oder nicht, als einer der größten Büchersammler des 19. Jahrhunderts. Seine Bibliothek umfasste rund 36.000 Bände.
Die Lesewut packte den am 31. Mai 1773 in Berlin geborenen und von Friedrich Nicolai und der Berliner Aufklärung geprägten Sohn eines Seilermeisters früh – in einer Zeit, in der das Lesen von Romanen noch als gefährlich galt. Goethe, den Tieck persönlich kannte, zählte zu seinen Vorbildern. Er begeisterte sich aber auch für triviale Stoffe.
Carl Grosses modisch-schauriger Geheimbundroman „Der Genius“ etwa versetzte ihn in einen derartigen Rausch, dass er Bekannte einlud, um ihnen das 600-seitige Werk in einem zehnstündigen Marathon vorzulesen. Darüber schreibt er seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder, mit dem er die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ verfasste, eine Art frühromantisches Manifest, das die Vorbildfunktion der Antike verabschiedet – eine Pointe des Briefs wiederum ist, dass die Zuhörer einschliefen. Tiecks Vorlese-Abende wurden dennoch legendär.
Die Büchermanie erinnert an Cervantes‘ Ritter von der traurigen Gestalt, der bekanntlich durch den übermäßigen Konsum von Genre-Romanen den Verstand verlor. Dass Tieck, der während seines Geschichts- und Philologie-Studiums in Halle, Göttingen und Erlangen Spanisch und Englisch lernte, die bekannteste und immer noch wunderbar zu lesende Übersetzung des „Don Quijote“ vorlegte, überrascht nicht.
Bekannt ist sein Name heute vor allem aufgrund der sogenannten Schlegel-Tieck-Ausgabe der Werke Shakespeares, obwohl er, anders als seine Tochter Dorothea und allen voran August Wilhelm Schlegel, an den Übersetzungen selbst kaum Anteil hatte. Hervorzuheben sind deshalb seine Shakespeare-Inszenierungen im Potsdamer Neuen Palais, darunter der „Sommernachtstraum“ mit der Bühnenmusik von Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Tieck, den Friedrich Wilhelm IV., der „Romantiker auf dem Thron“, 1842 nach Berlin zurückholte, wo er 1853 verstarb, war Übersetzer und Herausgeber – etwa der Werke von Novalis, Lenz und Kleist sowie mittelalterlicher Minnelieder. Seine frühen, in den „Märchen aus dem Phantasus“ enthaltenen Erzählungen „Der blonde Eckbert“, das Psychogramm eines Wahnsinnigen, oder „Der Runenberg“, ein frühes Beispiel dezidierter Kapitalismuskritik, sind fester Bestandteil des Kanons der Romantik.
Mit seinem Fragment gebliebenen Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“, einer Antwort auf Goethes „Wilhelm Meister“, beeinflusste er Dorothea Schlegel, Novalis und Eichendorff. Johannes Brahms schuf mit seiner Vertonung der Lieder aus Tiecks „Magelone“ einen der schönsten Zyklen des romantischen Repertoires, nicht zu vergessen das postdramatisch anmutende Stück „Der gestiefelte Kater“ (Reclam 2023, 88 S., 5€).
Was all diese Texte vereint, ist die Absage an den Rationalismus der Aufklärung und die Rehabilitierung des Wunderbaren in der Literatur. Tieck begründete quasi das Horror- und Fantasy-Genre, E.T.A Hoffmann und Edgar Allan Poe beziehen sich auf ihn. Daher warnt Arno Schmidt davor, in Tieck einen „hochromantischen Blaublümler“ zu sehen, ihn also zu verharmlosen. Nein, Tieck ist ein verrückter, ein wilder Autor.
„Wilde Geschichten“ heißt denn auch ein von Jörg Bong und Roland Borgards zum Jubiläum herausgegebener Band mit einer Auswahl früher Erzählungen, nach romantischem Vorbild verbunden durch kommentierende Zwischentexte (Galiani 2023, 288 S., 25 €). Weniger bekannt – und nur antiquarisch erhältlich – sind seine späten Dresdner Novellen, namentlich „Das alte Buch“, in denen eine an Cervantes geschulte und auf Thomas Mann hindeutende Ironie und eine geradezu postmoderne Lust am Vexierspiel zum Tragen kommen.