Lebensfreude auf Knopfdruck
Die letzten zwei Jahre sind keine Zeit, auf die viele freudig zurückblicken würden – außer wahrscheinlich Olly Alexander, Musiker Schauspieler, Sänger, Drehbuchautor, Universalkünstler. Für den 31-jährigen Briten markierten 2020 und 2021 den endgültigen Aufstieg vom schmalbrüstigen Sänger einer Synthpopband zur globalen Queer-Ikone: Alexander startete seine einst für die Musik auf Eis gelegte Schauspielkarriere mit der gefeierten BBC-Miniserie „It’s A Sin“ neu, gewann Preise für die Rolle und seinen politischen und gesellschaftlichen Aktivismus, und durfte sogar an Weihnachten bei „The Great British Bake-Off” mitbacken.
Gekrönt wurde dieser rasante Aufstieg von den Silvesterfeierlichkeiten des BBC vor wenigen Wochen, die der Sender kurzerhand gleich „The Big New Years & Years Party“ umbenannte, was zu 179 Beschwerden führte, weil das Programm „zu sexy“ gewesen sei. In der Rolle des herzlichen Showmasters führte der Sänger gemeinsam mit Legenden wie Kylie Minogue und den Pet Shop Boys Fernsehbritannien in das neue, in sein Jahr. Dass er dabei unter anderem den Marine-Serre-Bodysuit trug, den Popkönigin Beyoncé populär gemacht hat, dürfte dabei für aufmerksame Fans ein deutlicher Fingerzeig sein: Zielgerade Pop-Olymp.
Wunsch nach Nähe und gleichzeitig Angst davor
Auf nichts anderes hatte Alexander es angelegt, erzählte er vergangenes Jahr dem britischen „Guardian“: Seit seiner Kindheit habe er seine Karriere geplant und als Years & Years 2014 ihren ersten Vertrag bei einem der ganz großen Musiklabels unterschrieben, besuchte er einen Psychologen um sich mental auf das unvermeidliche Popstarleben vorzubereiten. Plan B? Ist was für Anfänger. Auch wenn es beim Aufstieg Verluste gab, wie beispielsweise das Schrumpfen der Band.
Das am Freitag erscheinende „Night Call“ (Universal) markiert nämlich Years & Years Debüt als Olly Alexanders Soloprojekt, nachdem die letzten beiden Mitgründer, Mikey Goldsworthy und Emre Türkmen die Band 2021 nach elf Jahren der Zusammenarbeit verlassen haben. Laut Bandstatement wohl im Guten – Bandgründer Goldsworthy bleibt weiter Teil der Liveband. Letztlich ist das eine konsequente Entwicklung, hatte Alexander das letzte Album „Palo Santo“ doch 2018 schon fast komplett im Alleingang promotet. Neben einer so einnehmenden Persönlichkeit wie ihm bleibt eben nur wenig Platz für andere Protagonist*innen.
In den Texten von „Night Call“ bleibt Olly Alexander seinen thematischen Schwerpunkten gemeinsamer Tage treu: Es geht auch hier immer wieder um Liebe und Sex, das eine mit oder ohne das andere, um die uneindeutigen Räume zwischen dem einen und dem anderen am Ende der Nacht oder Anfang des Tages. Auf „20 Minutes“ heißt es „Shut up, stop talking / I don’t want to make another new friend tonight / But I could use some company“ („Hör auf zu reden / ich möchte heute Nacht keine neue Freundschaft schließen / aber ich könnte etwas Gesellschaft brauchen“), es werden Bilder von Nähe und Distanz evoziert, von lauten Clubs und Romantik im Darkroom.
Genauso verhandelt Olly Alexander auf „Intimacy“ diese Angst vor Nähe und Intimität, von Sex als Schutzschild vor Gefühlen, vor Liebe. Die düster-sirupige Single „Crave“ weint einer schmerzvollen Beziehung hinterher. Es sind Texte aus dem Club, für die Datingrealität der Welt von Tinder, Grindr und Bumble, für eine Generation, die sich nach Liebe verzehrt, aber doch immer wieder auf der Jagd nach der besseren Option ist.
Der Sound verlässt sich noch mehr als bisher auf postmodernen Maximalismus, irgendwo zwischen EDM und Diskopop. Häufig klingt es wie eine Wiederauflage des Electrohouse und Dancepunks von Digitalism und Konsorten, gepaart mit Autotune-Momenten (die Alexander mit seiner wandelbaren Stimme eigentlich gar nicht nötig hätte) und nur wenigen Verschnaufpausen wie etwa bei den nur minimal ruhigeren Songs „See You Again“ oder „Reflection“.
Zeitgeistig ist was anderes. Aber wie in einer Wundertüte tauchen immer wieder Versatzstücke aus der Geschichte des Pop auf: auf dem ersten Stück „Consequences“ erinnert die Produktion an Daft Punks Hochzeiten, Alexanders Stimme wiederum immer wieder an den gefallenen King of Pop Michael Jackson, das Bonus-Stück „Immaculate“ spielt mit Dancehall-Klischees.
Überhaupt, Klischees: wirklich überraschend ist auf dem Album selten ein Stück. Das Team um Alexander lehnt sich gerne voll in jedes Popklischee, das seinen Weg kreuzt. Die Stoßrichtung ist dabei klar: „Night Call“ soll ein Album voller unwiderstehlicher Diskopophits in der Tradition großer Vorbilder wie Kylie Minogue werden, Songs zum Mitsingen im Auto, Tanzen auf der Hochzeit, zum viral gehen auf TikTok und Raven auf dem EDM-Festival. Lebensfreude auf Knopfdruck für das postpandemische Lebensgefühl. Doof nur, dass die Sache mit der Postpandemie wohl noch eine Weile auf sich warten lassen wird.
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Mit Abstand am stärksten strahlt die schon 2021 veröffentlichte Single „Starstruck“, eine exaltierte Hymne an das Verliebtsein und das Leben. Im wunderbar charmanten Musikvideo dazu beweist Alexander sein komödiantisches Talent in einer Doppelrolle als liebestoller Sänger und dessen eingeschüchtertem Gegenpart. Er verfolgt sich selbst, tanzt und zieht Grimassen im Wolkenprint-Pyjama. Und ganz auf sich allein gestellt, ohne Verkleidung und doppelten Boden zeigt sich, dass es bei aller Kritik am Album eine helle Freude ist Olly Alexander bei seinem Aufstieg zur queeren, ach was, zur universellen Ikone unserer zerrissenen Gegenwart zuzuschauen.
Und wer weiß, wohin die Reise als nächstes geht – die britische Boulevardzeitung „The Sun“ handelt ihn schon als nächsten Doktor Who (auch wenn er selbst noch widerspricht). Bis zur nächsten Karrierestufe kann Alexander gerne noch über unsere Fernsehbildschirme, durch Timelines und Playlisten tanzen.