Kolumne Berliner Trüffel (25) : West-Berliner Blick auf das 20. Jahrhundert

Geht man vom Sophie-Charlotte-Platz in Richtung Schloss Charlottenburg kann man an einer Wand eines rostroten kantigen Baus, einem Seniorenheim, fast ein ganzes Jahrhundert abschreiten und gleichzeitig einen verwehten Hauch der sozial und politisch bewegten West-Berliner Kunstszene der 80er-Jahre wahrnehmen.

Die Erdgeschosswand, die aussieht als wären dort einmal Läden oder Eingänge gewesen, ziert ein viele Meter langes Wandbild. Es wurde Anfang der Achtzigerjahre unter Anleitung des Künstlers Paul Blankenburg geschaffen, wie eine Tafel erklärt.

Gemeinschaftsarbeit mit Häftlingen

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird hier malerisch in Zehnjahresschritten erzählt, von den 20er Jahren bis zu den 80ern. Für jedes Jahrzehnt ein Triptychon mit figurenreichen Szenen: Es beginnt bei den Goldenen 20ern mit Jazz und Varieté, zeigt Bücherverbrennung und Reichstagsbrand, dann Trümmer-Berlin. Ein ambitioniertes Unterfangen. Blankenburg hat es gemeinsam mit jugendlichen Strafgefangenen aus der JVA Plötzensee gestaltet.

Wandbild in der Schloßstraße – Blick in die Zukunft, Jung und Alt treffen sich.
Wandbild in der Schloßstraße – Blick in die Zukunft, Jung und Alt treffen sich.
© Tagesspiegel/Birgit Rieger

Der Künstler war Teil der 1977 gegründeten Künstlergruppe Ratgeb, bestehend aus fünf Künstlerfreunden. Acht Jahre lang entwerfen die Ratgeb-Künstler in West-Berlin mehrere Wandbilder mit Schulkindern, Jugendlichen, Hausbesetzern und einer Biker-Bande bevor sich die Gruppe im Jahr 1985 auflöst.

Man läuft etliche Meter an der bemalten Erdgeschoss-Hauswand entlang. Die Farben verblasst, an manchen Stellen schon bis zur Unkenntlichkeit von Wind und Wetter angenagt. Aber eindrücklich immer noch. Die Häftlinge sollen es unter Anleitung Blankenburgs nach Fotovorlagen gemalt haben.

Man sieht im Nachkriegs-Abschnitt das Haus der Kulturen der Welt. Mauerbau, Kennedy am Rathaus Schöneberg, Beatles und Vietnam. Den Abschluss bildet eine Szene im Grünen, in der sich die Generationen treffen, die Plötze-Maler feiern mit den Senioren.

Der Appell, dieses West-Berliner Geschichtszeugnis nicht zu zerstören, wird mehr schlecht als recht eingehalten. Ein paar Tags sind draufgesprüht. Aber noch ist es recht gut zu sehen.