Das etwas flatterhafte Genie

Magnus Carlsen, der seit acht Jahren amtierende Schach-Weltmeister, war zunächst zurückhaltend. Favoriten beim Kandidatenturnier in Jekaterinenburg, wo im April sein Herausforderer ermittelt worden war, seien der Amerikaner Fabiano Caruana und der Chinese Ding Liren, hatte der Norweger vor dem Turnier gesagt.

Doch dann gewann ein anderer. Noch vor der letzten Runde hatte sich der Russe Jan Nepomnjaschtschi durchgesetzt. Er wird ab dem 24. November in Dubai gegen Carlsen antreten und um den Titel kämpfen. Das Duell verspricht Hochspannung.

Jan wer? Außerhalb der Schachwelt ist der 30-Jährige aus der Stadt Brjansk, 380 Kilometer südwestlich von Moskau gelegen, kaum bekannt. Sein Nachname „Nepomnjaschtschi“ heißt übersetzt soviel wie „derjenige, der sich nicht erinnert“.

Doch ’Nepo’ wie er international genannt wird, ist das Gegenteil davon. Sein Gedächtnis gilt als brillant. Sein Stellungsgefühl ist ausgeprägt. Er kombiniert rasend schnell.

Im Finale treffen Gegensätze aufeinander

Kein Wunder, dass sich Carlsen nach Nepos Sieg über seinen Herausforderer, den er seit Jugendtagen kennt, geradezu bewundernd äußerte. „Er ist einer derjenigen, die mich überspielen können“, sagte er. „Jan spielt schnell, ist extrem stark, taktisch erfindungsreich.“ Auf Twitter begrüßte er seinen Kontrahenten mit dem Wortspiel ’Time to say Dubai’.

Mit zwei Millionen Euro ist der WM-Kampf in dem Emirat etwa doppelt so hoch dotiert wie der vorherige. Denn eine Schach-WM lässt sich vermarkten. Seit dem legendären Aufeinandertreffen von Bobby Fischer und Boris Spasski 1972 in Reykjavik ist damit oft auch Show und Spektakel verbunden.

In der bisherigen Bilanz steht es vier zu eins für den Herausforderer. Das ist der beste Score aller Spitzenspieler gegen den Champion. Bei klassischer Bedenkzeit verlor Carlsen gegen Nepo zweimal bei Jugendturnieren und zweimal als Erwachsener. Nur einmal, 2019 in Zagreb, konnte er gewinnen. Die anderen sechs Partien endeten remis.

In den Wettbüros gilt der Norweger dennoch mit 72 zu 28 Prozent als Favorit. Als dickes Plus gelten seine Ausdauer, seine Beständigkeit und Kondition. Mit diesen Tugenden dominiert er seit rund zehn Jahren die internationale Schachwelt. Carlsen läuft, klettert und schwimmt gerne. Er ist durchtrainiert, konditionsstark und muskulös. Wenn seine Gegner nach stundenlangem Spiel ermüden, dreht er auf.

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Nepo dagegen verband lange Zeit sein Genie mit etwas Flatterhaftigkeit. Aufgewachsen in einer intellektuellen und literaturbegeisterten jüdischen Familie lernte er das Schachspiel mit viereinhalb Jahren, wurde gefördert, war mit acht Jahren Meisteranwärter, mit zehn Jahren Jugendeuropameister, mit elf Jahren Weltmeister der unter Zwölfjährigen (vor dem fünf Monate jüngeren Carlsen). Mit 17 wurde er Großmeister, mit 19 Europameister und im selben Jahr Russischer Meister.

Doch just in der Zeit zog Carlsen in der Weltrangliste an ihm vorbei. Statt diszipliniert seine Fähigkeiten zu verbessern, saß Nepo viel vor dem Fernseher und schaute Fußball, beschäftigte sich leidenschaftlich mit Videospielen wie ’DotA’ oder dem Kartenspiel Hearthstone. Er habe in der Zeit nicht wie ein echter Profi gearbeitet, sagt er rückblickend. Inzwischen weiß er: „Alles, was du brauchst, ist, ständig zu arbeiten.“

Magnus Carlsen ist seit acht Jahren amtierender Schach-Weltmeister und wird in diesem Jahr gegen Jan Nepomnjaschtschi antreten.Foto: imago images

Nepomnjatschtschi tritt nicht für Russland an

Die Schlüsselfrage für den WM-Kampf in Dubai lautet also: Wie viel vom alten Nepo steckt noch in dem neuen? Der alte Nepo zog manchmal zu schnell, hatte Aussetzer, patzte in Gewinnstellungen. Dem alten Nepo fehlten Konstanz und jenes dauerhafte Konzentrationsvermögen, ohne das sich ein Schachspieler nicht in der Weltspitze halten kann. Der neue Nepo war in Jekatarinenburg zu sehen, wo er sich souverän gegen sieben andere Kandidaten durchsetzte. Signifikante Schwächen? Gab es nicht.

Für Carlsen ist Nepo bereits der vierte Herausforderer. Gegen den Inder Vishy Anand (2014) gewann der Norweger klar, gegen den Russen Sergei Karjakin (2016) und den Amerikaner Fabiano Caruana (2018) erst im Schnellschach-Tie-Break. Ursprünglich war das WM-Finale für 2020 angesetzt worden, musste dann aber wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben werden.

Mit Nepo will auch Russland wieder zurück auf den Weltschach-Thron. Fischer vs. Spasski – die Schmach aus der Zeit des Kalten Krieges wurde nie ganz überwunden. Im Jahr 2007 gewann der Inder Anand, seit 2013 residiert Carlsen. Immer stärker werden die Chinesen. Schach ist auch eine Prestige-Sportart.

Bitter für Moskau, dass Nepo aufgrund des Urteils der Welt-Anti-Doping-Agentur in Dubai nicht unter russischer Fahne antreten darf. Denn russische Sportler müssen neutral auftreten und dürfen Russland in keiner Weise repräsentieren. Auch die Nationalhymne darf nicht gespielt werden. Nepo freut sich trotzdem auf das Match. Er sei „extrem glücklich“ darüber, sich qualifiziert zu haben.