Kekse statt Colts
Reiten, Pokern, Pionier sein, Büffel jagen, Sioux bekriegen, Rinder treiben, Fallen stellen, Planwagen lenken, Revolverheld sein, am Lagerfeuer schwadronieren.
Das sind ikonische Tätigkeiten, die in heroischem Gestus gefilmt, gewaltige Bedeutung für das Nation Building der Vereinigten Staaten haben.
Sie verkörpern den Mythos vom Westerner, vom freiheitsliebenden Grenzgänger, der sich die Wildnis Untertan macht und eine Zivilisation baut.
Zivilisation der Hauswirtschaft
Der Independent-Regisseurin Kelly Reichardt kommt nun das ewige Verdienst zu, diese im Genre Western zuerst kultisch verehrte und später verstärkt ironisierte Tätigkeitspalette zu erweitern.
Um hauswirtschaftliche Tugenden, im altmodischen Academy-Format in Nahaufnahme gedreht, die die auf Überwältigung zielende Grobmotorik der Breitwandepen konterkarieren.
In „Meek’s Cutoff“, der 2010 herauskam, wird auf einem Siedlertreck nach Oregon in der Prärie fleißig Popcorn gemacht, Brot gebacken, Kleidung geflickt.
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In „First Cow“ baut Kelly Reichardt die traditionell weiblich besetzte Perspektive weiter aus. Der Neowestern stieß 2020 im Wettbewerb der Berlinale auf viel Publikumsliebe und versank dann im Coronaloch. Umso schöner, dass er jetzt auf der Streamingplattform Mubi zu sehen ist. Und – wie der Peripher Filmverleih mitteilt – ab dem 18. November auch im Kino.
In „First Cow“ wird gefegt, gemolken und gebacken, als gäbe es kein Morgen. Genau das gibt es für Menschen ohne die Alltagsverrichtungen rund um Obdach, Essen, Kleidung auch nicht. Hauswirtschaft ist die wahre Basis jeder Zivilisation.
Sie verstetigt das Siedlerleben. Besonders in den feuchten Wäldern Oregons im Jahr 1820, wo es in dem Marktflecken am Fluss, in dem „First Cow“ spielt, nur windschiefe Katen und das Landhaus des britischen Handelstycoons namens Chief Factor (Toby Jones) gibt.
„Sieht schon besser aus“, sagt Cookie (John Magaro) zufrieden zu seiner Zufallsbekanntschaft King-Lu (Orion Lee). Zuvor hat der Brennholz gehackt, Cookie seinerseits zum Besen gegriffen und King-Lus Bretterbude gekehrt, ja sogar ein paar Blümchen als Zierde in eine Flasche gestellt.
Grantige Trapper plündern die Wildnis
Abgesehen von den arbeitssamen Ureinwohnern, die es zum Handel treiben an den Fluss zieht, führen in „First Cow“ die Männer die Wirtschaft. In der Hütte von Cookie und King-Lu und in der Siedlung, die sich als Speerspitze des frühen Kapitalismus in das Territorium am Columbia River schiebt.
Die grantigen Trapper, mit denen Cookie ein paar Tage zuvor noch unterwegs war, leiten die Plünderung der Region ein. Dieser Subtext ist Reichardts stillem Drama eingewebt, obwohl es eigentlich die Geschichte einer wunderbare Freundschaft erzählt.
Dort im nachtschwarzen Wald begegnet Cookie King-Lu zum ersten Mal. Kurios genug, hockt King-Lu auf der Flucht vor einer Bande Russen nackt im Farn. Der gutherzige Cookie gewährt ihm heimlich Schutz in seinem Zelt. Diese wunderliche, von Finsternis und lakonischen Dialogen geprägte Episode ebnet der Gemeinschaft zweier sanfter Außenseiter den Weg.
Kapital, Wunder oder Verbrechen
Vision und Talent, darauf kommt es bei der Existenzgründung an. „Man braucht Kapital, ein Wunder oder ein Verbrechen“, sagt King-Lu. Der geborene Unternehmer, der flüssig über seine Ambitionen philosophieren kann, aber ungern selbst Hand anlegt, findet im Praktiker Cookie den idealen Gefährten.
Mit umflortem, aufmerksamen Blick findet Cookie Pilze, Blaubeeren und Eicheln. Geschickt näht er Puschen und legt mit seinem phänomenalen Schmalzgebäck den Grundstein für das ökonomische Prosperieren der Underdogs.
Dumm nur, dass die erste Kuh der ganzen Gegend von Chief Factor importiert wurde. Der will seinen Tee – wie daheim in London – mit Milch trinken. Und erliegt in Nullkommanichts Cookies Gebäck. Auch renommieren lässt sich damit. Trotzdem ist der Chief wenig amüsiert, als er den nächtlichen Milchklau der vom Pech verfolgten Glücksritter entdeckt.
Tatsächlich lässt sich ein Serienraub kaum weniger kriminell inszenieren, als es Kelly Reichardt beim Stelldichein von Cookie und Kuh (Evie) tut. „Es tut mir leid, was mit deinem Mann und deinem Kalb passiert ist, das ist schlimm“, tröstet Cookie das Tier, dessen Familie bei der Anreise ins Gras biss.
In der Liebe und im Kino sind Unwahrscheinlichkeiten erlaubt
In Reichardts seelenruhigem Naturalismus ist das eine fast schon märchenhafte Szene. Nicht nur, weil die Blütezeit der Tierschutzbewegung gewiss nicht auf 1820 datiert. Sondern auch, weil die kostbare Kuh die Nächte draußen angepflockt an einen Baum verbringt, obwohl Wölfe mit glühenden Augen die Wälder durchstreifen.
Doch in der Liebe und im Kino sind alle Unwahrscheinlichkeiten erlaubt. „Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen Freundschaft.“ Dieses Zitat von William Blake stellt Reichardt ihrer Freundschaftssaga voran. Und auch wenn die junge Siedlergesellschaft von Oregon mörderische spätkoloniale und frühkapitalistische Strukturen kennt, erstaunt das Miteinander der Ethnien, in dem der Chief Factor auch einen Häuptling zum Tee lädt.
Die Utopie, dass ein von Rührbesen schwingenden Keksbäckern erschlossenes Amerika besser geworden wäre als das der Waffenträger, lässt „First Cow“ jedoch nicht gelten. In dem Moment, als King-Lu gierig wird, fängt das Unglück an.