Isjum gibt es jetzt doppelt

7. bis 8. Juni

Seit Wochen arbeitet mein Sohn Boris an einem Vortrag über die Propaganda in der UdSSR zur Stalinzeit. Gestern durfte ich die aktuelle Fassung hören. Er erzählt lange über eine Zeit, die er nicht erlebt hat. Natürlich wurde auch ich viel später geboren, dafür lebten damals meine Großeltern und deren Freunde.

Mit meiner Oma haben wir manchmal darüber gesprochen. Die Überreste dieser Propaganda konnte man in den (inzwischen ehemaligen) Republiken der Sowjetunion noch in den 1980ern erleben – die Denkmäler, die alten TV-Filme, die Bücher vieler sowjetischer Schriftsteller.

Dimas Eltern schreiben, dass es ihnen gut geht

Später bin ich noch mit Dima verabredet. Wir treffen uns vor den Schönhauser Arcaden, kaufen uns Limonade und gehen eine Runde spazieren. Vor der Gethsemanekirche geraten wir zufällig in eine Kundgebung. Auf dem Zaun hängt die sowjetische Fahne. Worum geht’s hier? Um die Ukraine? Um Corona? Oder beides?

Am Helmholtzplatz setzen wir uns auf eine der wenigen freien Bänken. Ein paar Meter weiter sitzen Jugendliche, die kiffen und lachen laut, aus ihrem Bluetooth-Lautsprecher läuft Pop aus den Neunzigern. Dima erzählt von seinen Eltern, die mit seiner 90-jährigen Oma in Isjum geblieben sind. Isjum ist zur Zeit von den russen besetzt.

„Sie wollen nicht, dass wir uns hier um sie Sorgen machen. Wenn sie Empfang haben, schreiben sie: ,Alles gut, uns geht’s hervorragend!’“, sagt Dima und ich muss an meinem Vater denken, der genauso war: Nur über Positives berichten, auch – und vor allem – wenn die Lage ganz schlecht ist.

Auf den wenigen Fotos, die die Eltern schicken, sehen sie alles andere als glücklich aus, meint er. Um sich zu informieren, abonniert er die Telegram-Gruppen, bei denen es um die aktuelle Lage in Isjum geht. Es gibt sogar schon eine Zeitung, die auf russisch über die schnelle Normalisierung des Lebens in der Stadt informiert. Dima liest vor: Eine Musikschule wurde wiedereröffnet, alle freuen sich. Die glücklichen Eltern der Neugeborenen erhielten russische Geburtsurkunden, sie freuen sich ebenso.

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Der Schreibstil erinnert mich an den, über den es im Vortrag von Boris geht. Es liest sich wie die „Prawda“ aus dem Jahr 1951, während in der gleicher Gruppe die geflohenen Bewohner Isjums Bilder ihrer zerstörten Häuser posten. Es wirkt so, als ob es zwei parallelen Isjums gäbe.

Zehn Stunden später sitze ich im Zug nach Prag. Ich werde bei der Eröffnung eines Literaturfestivals unser Projekt „Fokstroty“ präsentieren. Genau vor einem Jahr haben Serhiy Zhadan und ich in Charkiw angefangen, daran zu arbeiten. Heute kann er nicht dabei sein, er ist in Charkiw, wo nach wie vor täglich bombardiert wird.

Es fühlt sich für mich ganz merkwürdig an, diese Songs ohne ihn spielen zu müssen. Ich höre mir im Zug nochmal unsere Aufnahmen an und überlege mir, wie wir die Texte verteilen sollen. Mit mir wird heute die Dichterin Lyuba Yakimchuk auf der Bühne stehen, wie schon im November 2021, als wir das Album in Kiew präsentierten. Damals performte Lyuba nur einen Song, heute werden es mehr.

Mit der Gitarre und schwerem Rucksack kann ich mich nur langsam Richtung Hotel bewegen, dafür schaue ich mir auf dem Weg alle Tourplakate an. Interessant, neben den Postern anderer internationalen Acts sehen die von den ukrainischen Bands ganz selbstverständlich aus. 

“Welcome to Paradise City!”, brüllte Sasha

Im Juli spielen Slipknot in Prag. „Wäre Sasha hier, hätte sie sich riesig gefreut“, denke ich. Aber ich weiß nicht, wo Slipknot-Fan Sasha gerade ist. Hoffentlich nicht in Rajhorodok, einer Siedlung in der Oblast Donezk, wo wir uns vor eineinhalb Jahren kennengelernt und einen Song aufgenommen haben.

Sasha brüllte nur die Phrase „Welcome to Paradise City!“, aber es klang toll, auch weil Rajhorodok übersetzt Paradiesstädtchen heißt, es war ein cooler Witz. Seit einigen Wochen wird Paradiesstädtchen mit schwerer russischer Artillerie beschossen.

Bei einer langen Probe gehe ich mit Lyuba alle Stücke durch. Wir spielen im Zentrum für moderne Kunst, es kommen viele Ukrainer. Als ich durch das Publikum zur Bühne muss, stoße ich plötzlich auf eine Frau, die bei unserem ersten Auftritt in Kiew dabei war. Sie heult. Wir umarmen uns. 

Bei der Premiere in der Ukraine hat es höchstens zehn Minuten gebraucht bis alle getanzt haben. Heute dauert es länger. Nach dem Auftritt kommen viele zu uns, um sich zu bedanken. Auch der zwölfjährige Roman, der mich anspricht, während seine Mutter mit Lyuba plaudert.

Er ist scheu. Ich frage ihn, wo er herkommt. „Aus Tschernihiw. Ein Monat im Keller. Schule zerbombt. Hier!“ Er zeigt mir Bilder auf dem Handy. Von der Schule ist kaum was übrig geblieben, stelle ich fest. . Ich möchte ihn umarmen, ich weiß nicht, was ich ihm sagen könnte oder sollte.

Seine Mutter kommt dazu. „Ach, schon wieder diese Bilder, Roma!“, sie lächelt und bedankt sich für das schöne Konzert. Roman packt sein Telefon weg und schaut in die andere Richtung. Dann gehen die beiden.

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