Hitzewallungen auf dem Weg ins Erwachsenenleben
Er war der bedeutendste Verleger des Expressionismus in Deutschland, eine Biografie von Kurt Wolff fehlt gleichwohl bis heute. Wer gehofft hatte, dass sie nun vorliegt, wird enttäuscht. Alexander Wolff ist ein amerikanischer Sportjournalist, dessen Vater Nikolaus aus der ersten Ehe Wolffs mit Elisabeth Merck stammt, deren Vorfahren einst ein pharmazeutisch-chemisches Unternehmen gegründet hatten. Die zweite Ehefrau Helen Wolff, die nach Kurts frühem Tod noch viele Jahre das Imprint Helen and Kurt Wolff Books leitete, ist die Stiefmutter des Autors. Sie spielt im Buch eine sehr wichtige Rolle, denn der Großvater ist die Hauptperson dieser Familiengeschichte.
[Alexander Wolff: Das Land meiner Väter. Die deutsch-amerikanische Geschichte meines Großvaters Kurt Wolff. Aus dem amerikanischen Englisch von Monika Köpfer. DuMont, Köln 2021. 482 Seiten, 26 €.]
Die zweite Hauptperson ist der Vater Nikolaus, der als Kind seiner nichtjüdischen Mutter Elisabeth Merck nicht emigrierte und 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Auch er ging in die USA, aber eben erst nach dem Krieg. Seinem Vater gilt das Hauptinteresse des Autors. Das ist verständlich, mit ihm ist er aufgewachsen, während der Großvater starb, als Wolff sechs Jahre alt war. Was er über den Vater berichtet, macht den interessantesten Teil des Buches aus, während er mit der Annäherung an den Großvater überfordert ist.
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an eine amerikanische Leserschaft. Der Autor hat während seiner Recherchen ein Jahr in Deutschland verbracht und im Berliner „Viertel“ Kreuzberg gelebt. (In Wirklichkeit ist Kreuzberg ein Bezirk.) Dieses Kreuzberg zeichnet sich laut Wolff dadurch aus, dass dort Angehörige von 190 Nationen leben und dass die Gentrifizierung seine „rauen levantinischen Ecken und Kanten noch nicht glatt geschliffen hat“. Außerdem leistet Kreuzberg mit seinem „trotzigen Kosmopolitismus“ Widerstand gegen die AfD. Sie ist die einzige politische Partei, die in dem Buch vorkommt, dafür häufig. Dabei referiert Wolff, was deutschen Lesern aus den Medien nur allzu vertraut ist.
Historische Fehler en masse
Problematischer ist, dass weder die Übersetzerin noch der Lektor sich bemüßigt gefühlt haben, die diversen historischen Fehler zu korrigieren. Fast alles, was Wolff über den Ersten Weltkrieg schreibt, stimmt nicht, selbst wenn es um die Verlagsbranche geht. Und auch mit der NS-Zeit sieht es nicht so viel besser aus. Der „Ariernachweis“ war keine Voraussetzung für die deutsche Staatsbürgerschaft, Reichsbürgerschaft wäre richtig, und die Einsatzgruppen waren keine Einheiten der Waffen-SS, sie unterstanden der Sicherheitspolizei und dem SD.
Über einen deutschen Verwandten, der sich in jungen Jahren mit der NS-Vergangenheit seines Heimatlandes beschäftigt hat, erfahren wir: „In seiner Jugend hatte er ausgiebig seine Sympathien für die Gegenkultur kundgetan, indem er am ‚Reinigungsritual in Bezug auf die Sünden der Väter’ teilnahm.“
Wolff versucht seinen Lesern in unbeholfenen Worten die deutschen Verhältnisse zu erklären. Für die Leserschaft in den USA mag das hingehen, für das deutsche Publikum ist es eine Zumutung, zumal das Buch unglaublich schlecht übersetzt ist. Ausführlich widmet er sich dem Privatleben seines Großvaters, in dem viele Frauen eine Rolle spielten: „Mein Großvater war gerade einmal Mitte zwanzig, aber sein Erwachsenenleben befand sich bereits auf hitzigem Kurs.“
Die intellektuellen Dimensionen des großväterlichen Wirkens sind ihm dagegen nicht wirklich zugänglich. Hier referiert er ein paar Gemeinplätze über die literarische Moderne und schreibt über die amerikanische Zeit, dass der Großvater „in Manhattan in Sicherheit lebte und allenfalls nach Ideen für einen weiteren universalistischen Essay oder einen prächtigen Bildband schürfte, mit dem er die Leserschaft beglücken konnte.“
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Inspiration aus dem Grab heraus
Natürlich muss auch Hannah Arendt vorkommen, die sich nach ihrem Tod zu einer universalen Ikone entwickelt hat. Leider ist ihr Name falsch geschrieben und in dem im englischen Original zitierten Titel ihres berühmtesten Werkes „The Origins of Totalitarianism“ fehlt gleich eine ganze Silbe. Der Text ist mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehen, in dem wir zum Beispiel erfahren, dass Richard von Weizsäcker aus dem Grab heraus Angela Merkel zu ihrer Flüchtlingspolitik inspiriert hat.
Richtig ist Wolffs Feststellung, dass in Deutschland die exekutive Macht beim Bundeskanzler liegt. Fragwürdig ist allerdings seine Behauptung, dass der Bundespräsident sich „gern als Philosophenkönig gibt“. Platons Philosophenkönig ist auf Grund seiner großen Weisheit mit einem Machtmonopol ausgestattet und Anhänger einer solchen Diktatur waren unsere Bundespräsidenten nie. Nützlich wäre in einem solchen Buch, in dem sehr viele unterschiedliche Menschen vorkommen, zweifellos ein Personenregister. Leider gibt es keines.