Filmdrama „Alle die du bist“: Wenn der Spätkapitalismus die Liebe zersetzt
Nadine nähert sich behutsam dem aufgeregt schnaubenden Tier, schmiegt sich an seinen Körper, streicht besänftigend über sein Fell. Das Rind namens Paul kommt allmählich zur Ruhe und steht Nadine (Aenne Schwarz) kurz darauf als ein etwas kleinlaut dreinblickender Junge gegenüber, der darauf besteht, sich für seinen Ausraster beim Chef zu entschuldigen.
Was „Herr Lichter“ in Gestalt eines gutmütigen knuffigen Teenagers dann auch tut, bevor er als mütterliche ältere Frau mit Nadine zu den gemeinsamen Kindern zurückkehrt. Der ‚eigentliche‘, reale Paul (Carlo Ljubek), lässt auf sich warten. Vorerst zeigt er sich nur als Abbild auf Fotografien und auf einer anderen Zeitschiene.
Es sind nicht etwa kafkaeske Metamorphosen, die sich in „Alle die du bist“ von Michael Fetter Nathansky vollziehen, sondern vielmehr die wörtlich ins Bild gesetzte Wahrnehmung verschiedener – stark typisierter – Persönlichkeitsfacetten und Rollen.
Alternative Blickweisen
Man braucht eine Weile, um Pauls Gestaltwandlung (im Abspann „Paul Jung“, „Paul Frau“, „Paul Kind“ und „Paul Tier“ genannt) nicht primär als inszenatorischen Kunstgriff wahrzunehmen, sondern als alternative Blickweisen, und nicht immer wird die Vervielfältigung produktiv. Doch wenn Paul am Ende an seiner neuen Arbeitsstelle dem Vorgesetzten erneut als Rind hinterhertrottet, weicht die anfängliche Verspieltheit einer bitteren gesellschaftlichen Diagnose.
„Alle die du bist“ ist das Porträt einer erschöpften Frau, der die Liebe zu ihrem Mann entgleitet. Michael Fetter Nathansky (Co-Autor von Sophie Linnenbaums Film „The Ordinaries“) bettet den Liebesverlust dabei fest in die Arbeitswelt der vom Strukturwandel bedrohten rheinischen Braunkohleindustrie ein. Die Maschinenbauerin und zweifache Mutter Nadine, vor vielen Jahren aus Brandenburg nach Köln gekommen, ist eine Kämpferin an verschiedenen Fronten.
Als Vorsitzende der Gewerkschaft versucht sie drohende Entlassungen abzuwenden, für ihren gelegentlich an Panikattacken leidenden Mann Paul repariert sie die angerichteten Schäden und erkämpft zweite Chancen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Und auch für die Rückgewinnung der Liebe schmeißt sich Nadine – und mit ihr die Schauspielerin Aenne Schwarz – mit wilder Entschlossenheit in den Ring.
Nicht immer war Nadine die Frau, die sich kümmert. In der Rückblende, die durch ein schmaleres Bildformat und eine warme Lichtstimmung markiert wird, tritt sie anfänglich als schroffe Person auf, die Blicken ausweicht und eigentümlich betäubt wirkt. Erst als sie in der Fabrik den impulsiven Arbeiter Paul kennenlernt (die anderen Pauls werden von Youness Aabaz, Jule Nebel-Linnenbaum und Sammy Schrein verkörpert), vermag sie sich aus ihrer Starre zu lösen.
Kollision, Erregtheit und Reibung
Nathansky setzt die Begegnung des Paars bei aller Zärtlichkeit vor allem als das Aufeinandertreffen zweier energetischer Körper in Szene. Und auch Nadines schwindende Gefühle sieben Jahre später artikulieren sich primär als ein physisches Unvertrautwerden.
Pauls Geruch ist ihr fremd, sein Lächeln erkennt sie nicht wieder. Einmal nähert sie sich dem schlafenden Körper wie einer fremdartigen Spezies, vorsichtig schnuppert sie an ihm, greift seine Hand und betrachtet sie wie einen merkwürdigen Gegenstand.
„Alle die du bist“, der bei der im Februar bei der Berlinale in der Sektion Panorama seine Erstaufführung feierte, ist ein Actionfilm eigener Art. Nathansky und sein Bildgestalter Jan Maynz erzählen die Geschichte mit vorwärtstreibendem Drive und einer Fokussierung auf Kollision, Erregtheit und Reibung.
Mit der Verbindung von Sozialrealismus und magischem Erzählen betritt der 1993 in Köln geborene und an der Filmuniversität Babelsberg ausgebildete Regisseur im (jüngeren) deutschen Kino neues Terrain. Es ist der gleiche hemmungslose Eifer, mit dem sich Nadine für das Wiederverlieben einsetzt, mit dem Nathansky ein romantisch-utopisches Denken erstreitet, das den Kontakt zur sozialen Wirklichkeit dennoch nie verliert.
Der Verschleiß der Gefühle ist ein Produkt der ökonomischen Verhältnisse, so viel weiß auch Paul, als er seine Beschwerde an eine Abgeordnete der Fabrikleitung richtet: „Ich werde Sie verklagen. Dafür, dass meine Frau mich nicht mehr liebt“.