Es ist gut, jemanden wie Leon Goretzka zu haben
Leon Goretzka wusste, was er tat. Das ist eigentlich kein Satz, mit dem man einen journalistischen Text beginnen sollte. Wo ist die Neuigkeit? Wo das Überraschende? Leon Goretzka weiß immer, was er tut. Das ist auf dem Fußballplatz genauso wie im richtigen Leben. Insofern musste niemand auch nur einen Gedanken daran verschwenden, dass Goretzka am Mittwochabend um kurz vor elf in der überschäumenden Euphorie für einen kurzen Moment seine Orientierung verloren haben könnte.
Nein, es war ganz sichern nicht so, dass der Mittelfeldspieler der deutschen Nationalmannschaft tatsächlich gemeint haben könnte, er habe seinen befreienden Treffer zum 2:2-Endstand gegen die Ungarn vor der deutschen Kurve erzielt; dass er glaubte, er feiere nun mit dem eigenen Anhang die glückliche Qualifikation für das Achtelfinale der Europameisterschaft. Goretzka wusste ganz genau, auf wen er zulief, als er mit seinen Fingern ein Herz formte, und wem diese Geste galt.
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Sie galt den – um es mal freundlich auszudrücken – düster dreinblickenden Jungs aus Ungarn, die immer noch ihr Weltbild von vorgestern pflegen; die bei den Spielen ihrer Mannschaft in Budapest dunkelhäutige Spieler des Gegners rassistisch beleidigt haben und in München durch homophobe Rufe aufgefallen waren. Die Zweifel, die es nie gab, hat Goretzka am Morgen danach endgültig aus der Welt geschafft. Auf seinem Twitteraccount postete er ein Foto seines Jubels, versehen mit der Botschaft „Spread Love“. Verbreitet Liebe, also. Dahinter wehte die Regenbogenflagge.
Es ist gut, jemanden wie Leon Goretzka zu haben. Das hat sich am Mittwochabend in München mal wieder gezeigt, sowohl als Fußballer als auch in seiner Eigenschaft als Mensch. Im deutschen Fußball gibt’s kaum jemanden, der sich so klar und auch so glaubhaft zu politischen und gesellschaftlichen Themen positioniert wie Goretzka. Wer in den Tagen der Europameisterschaft mit der Bahn durchs Land reist, dem blickt der Münchner vom Titel des Magazins „DB mobil“ entgegen.
Keine normalen Umstände
Im Interview äußert er seine Hoffnung, dass die AfD bei der Bundestagswahl möglichst viele Stimmen verliere, die Partei also, die er bei anderer Gelegenheit bereits als „Schande für Deutschland“ bezeichnet hat. „Ich will Chef sein“, steht auf dem Titel des Bahn-Magazins. Diesem Ziel ist der 26-Jährige am Mittwoch auch sportlich wieder ein gutes Stück nähergekommen. Etwas überraschend hatte Goretzka beim Anpfiff des finalen Gruppenspiels erneut nicht auf dem Platz gestanden.
Durch die Verletzung von Thomas Müller war ein Platz in der Startelf frei geworden, und viele hatten gemutmaßt, dass Bundestrainer Joachim Löw diesen Platz mit Leon Goretzka auffüllen würde. Dass der Münchner unter normalen Umständen Stammspieler der deutschen Nationalmannschaft ist, steht ohnehin außer Frage. Aber normal waren die Umstände bisher eben nicht. Am Ende der Bundesligasaison hat sich Goretzka einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zugezogen. Es war sogar leicht fraglich, ob er überhaupt rechtzeitig zur EM fit werden würde.
Goretzka selbst hat von einer engen Kiste gesprochen und trotzdem akribisch für sein Comeback gearbeitet. Mit leichter Verspätung stieß er in der Vorbereitung zur Mannschaft. Im Trainingslager in Seefeld trainierte er weitgehend individuell, und in den beiden Vorbereitungsspielen vor der EM stand er auch noch nicht zur Verfügung. Erst am vergangenen Wochenende, beim 4:2 gegen Portugal, kehrte Goretzka schließlich nach sechs Wochen Pause auf den Fußballplatz zurück. Gut 20 Minuten vor dem Ende wurde er von Löw eingewechselt.
„Ran und was bewegen“
So lange konnte der Bundestrainer am Mittwochabend nicht warten. Bereits in der 58. Minute schickte Löw Goretzka für Ilkay Gündogan aufs Feld. Er selbst hatte schon weit vorher eine entsprechende Ahnung gehabt. „Wir müssen heute noch ran und was bewegen“, sagte Goretzka zu seinem Banknachbarn Thomas Müller, als sich die Bemühungen ihrer Kollegen um den für das Weiterkommen zwingend nötigen Ausgleich denkbar zäh gestalteten. Anstelle von Goretzka hatte Löw dessen Münchner Teamkollegen Leroy Sané gegen die Ungarn von Anfang an aufgeboten. Doch weder vor der Pause – als Teil der offensiven Dreierreihe – noch nach der Pause als Schienenspieler auf der rechten Seite hatte Sané einen erkennbaren Mehrwert für das deutsche Spiel.
Im Gegenteil. In fast all seinen Aktionen wirkte er extrem unglücklich. Aber bei welchem deutschen Spieler war das an diesem Abend grundlegend anders? Löw, sonst nicht gerade für exzessive Wechsel bekannt, sah sich schon früh zu tiefgreifenden Korrekturen genötigt. Wenige Minuten nach Goretzka wechselte er auch noch Timo Werner und Thomas Müller ein, und für die wilde Schlussphase brachte er schließlich mit Jamal Musiala und Kevin Volland die letzten verbliebenen Offensivoptionen in seinem Kader.
Drei der fünf Eingewechselten waren am erlösenden Ausgleich wenige Minuten vor dem Abpfiff beteiligt. Musiala leitete die Aktion mit einem gelungenen Dribbling auf der Seite ein, von Timo Werner landete der Ball mit etwas Glück vor dem Fuß von Goretzka, der ihn mit letzter Entschlossenheit ins Tor wuchtete. Zweimal hatte Löw bei der EM dieselbe Startelf aufgeboten, und im dritten Spiel nahm er nur die Änderung vor, die sich durch Müllers Ausfall nicht hatte vermeiden lassen. Zum Achtelfinale gegen England am kommenden Dienstag aber könnte es erstmals größere Umbauarbeiten in der Mannschaft geben.
Gündogan wird vermutlich weichen müssen
Müller wird wohl für Sané wieder ins Team zurückkehren. Der erst 18 Jahre alte Jamal Musiala zeigte bei seinem kurzen EM-Debüt, dass er mit seiner Beweglichkeit in engen Räumen als legitimer Nachfolger der 2014er-Spezialkräfte André Schürrle und Mario Götze eine wertvolle Einwechseloption sein kann. Vor allem aber wird Löw einen Platz für Leon Goretzka finden müssen. Dass der Münchner am Dienstag im Wembleystadion erstmals von Anfang an spielen wird, steht außer Frage. „Er hat viel Tempo reingebracht, die tiefen Wege gemacht“, sagte der Bundestrainer über Goretzkas Einfluss auf das deutsche Spiel. „Er macht in der Defensive und in der Offensive Dinge, die der Mannschaft guttun.“
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Vermutlich wird Ilkay Gündogan für ihn weichen müssen, der bei seinem dritten großen Turnier erneut nicht der Faktor ist, der er mit seinem Qualitäten sein könnte und müsste. Auch die Systemfrage – Dreier- oder Viererkette? – könnte nach dem unbefriedigenden Auftritt gegen die Ungarn noch einmal gestellt werden. Vieles von dem, was gegen die Portugiesen blendend funktioniert hatte, lief am Mittwoch ins Leere. „Wir haben uns sehr schwergetan, Chancen zu erarbeiten, haben es nicht geschafft, hinter die gegnerische Kette zu kommen“, sagte Joshua Kimmich. „Wir standen auch nicht wirklich gut bei Ballverlusten, haben es im Anlaufen nicht gut gemacht.“
Verantwortlich dafür war nicht nur das unzulängliche Bemühen der deutschen Offensive, sondern auch die andere Grundordnung der Ungarn in der Defensive, die im Unterschied zu den Portugiesen mit Fünferkette verteidigten und dadurch in letzter Linie nicht per se in Unterzahl waren. Löw reagierte noch vor der Pause, stellte auf ein 4-3-3 um und postierte
Kimmich ins Zentrum, in dem die Deutschen in Person von Toni Kroos und Ilkay Gündogan arge Probleme hatten. Die Engländer, Gegner im Achtelfinale, verteidigen genau wie die Portugiesen mit einer Viererkette. Das spräche dafür, das bisherige System beizubehalten. Das stichhaltigste Argument dagegen heißt: Joshua Kimmich, der als Chef in der Mitte benötigt wird. An der Seite von Leon Goretzka.