Lise Gujers Teppiche im Brücke-Museum: Vom Weben und Wirken

Was für ein Ungetüm doch so ein Webstuhl ist! Dabei ist es ein eher kleines Exemplar, für den Gebrauch in den niedrigen Stuben Graubündner Häuser. Eines bewohnte Lise Gujer, die Weberin der Vorlagen von Ernst Ludwg Kirchner.

Im Brücke-Museum sind jetzt die Bildteppiche zu sehen, die sie zunächst ab 1922 zu Lebzeiten Kirchners, dann nach einer langen Pause seit den 1950er Jahren bis zu ihrem Tod 1967 auf eben diesem Webstuhl geschaffen hat. Erstmals wird der Textilkünstlerin die Würdigung zuteil, die ihr für ihre kongeniale Umsetzung Kirchner’scher Motive zukommt.

Kirchner, seit 1917 in Davos, weil er dem Krieg und seinen durch Drogenkonsum verstärkten Ängsten entfliehen wollte, suchte Anfang der zwanziger Jahre jemanden, der seine Ideen für Bildteppiche verwirklichen konnte. Im sozialen Umkreis der Davoser Kurhäuser lernten sich Gujer und Kirchner kennen, und vor allem mit dessen Lebensgefährtin Erna Schilling schließt Lise Gujer Freundschaft.

Kirchner vertraut ihr seine Teppich-Projekte an – und ist anfangs entsetzt: „Es geht so nicht weiter, da alles in Grau ertrinkt“, moniert er. Der Teppich „Bauernpaar, Kuh und drei Bauern mit Ziege“ zeigt deutlich, dass das Grau der die farbige Wolle tragenden Kettfäden dominiert; abgesehen davon sind die Formen ungelenk. Doch Lise Gujer lernt schnell, sodass Kirchners Vorfreude – „Die Weberei hat wunderbare Möglichkeiten“ – bald Bestätigung erhält.

Ernst Ludwig Kirchner gibt die Farben an

In den Folgejahren bringt Kirchner immer neue Entwürfe in das Bauernhaus der Lise Gujer. Kirchner, so berichtet ein Vertrauter später, „brachte jeweils die neuen Teppichentwürfe ins Wohnzimmer, und sofort wurde mit der Arbeit begonnen. Er erklärte das Thema und gab die Farben an, die sich die Weberin im Entwurf mit eingezogenen fabigen Fäden notierte.“

Lise Gujer, Der Hirte, nach 1952, nach einem Entwurf von Ernst Ludwig Kirchner.

© Brücke Museum/Nachlass Lise Gujer

Solche Entwürfe mit farbigen Fadenstücken sind mehrfach zu sehen. Die Kooperation mit dem Bündner Kunstmuseum in Chur ermöglicht die jetzige Ausstellung unter dem Titel „Lise Gujer. Eine neue Art zu malen“. Der begleitende Katalog enthält zugleich ein illustriertes Werkverzeichnis.

Lise Gujer, die webte und vor allem – was technisch ein Unterschied ist – wirkte, verwendete die Vorlagen seitenverkehrt auf ihrem Webstuhl, der maximal 95 Zentimeter breite Bahnen zuließ. Große Teppiche mussten aus zwei Bahnen zusammengenäht werden.

Lise Gujer, Schwarzer Frühling, nach 1954, nach einem Ölbild von Ernst Ludwig Kirchner.

© Brücke Museum/Nachlass Lise Gujer

Kirchner tauchte in den zwanziger Jahren in die bäuerliche Welt ein, die außerhalb der Davoser Zauberberg-Szenerie fortbestand. Almauftrieb, Heumahd, Haustiere, Bauern auf dem Weg, das sind die Motive, die Kirchner zu Papier brachte und auch in Gemälden verarbeitete. Lise Gujer setzte die Vorlagen in farbkräftige Teppiche um. Lange nach Kirchners Freitod 1938 fand sie erneut zur Arbeit an seinen Vorlagen, aber nun zunehmend freier, auch in kleinen Serien, jedes Unikat abweichend gestaltet.

In den intimen Räumen des Brücke-Museums kommen die Wandteppiche wunderbar zur Geltung. Mit einem Mal meint man, Kirchner als bloßen Anstoßgeber, Lise Gujer als Schöpferin kraftvoller Harmonien zu sehen. Der größte Teppich, den sie für einen Sammler schuf, stand als Leihgabe nicht zur Verfügung; an seiner statt hängt eine Fotografie, die Kirchner von diesem figurenreichen Hauptwerk aufgenommen hat.

Lise Gujer, 1893 in ein wohlhabendes Züricher Elternhaus geboren, litt an Asthma und ging 1917 nach Davos. Nach einem schweren Unfall begann sie 1922 autodidaktisch mit der Webe- und Wirkerei, und gleichzeitig gab die Begegnung mit Kirchner ihrem Leben eine neue Richtung. Sie beschrieb ihn als „Künstler mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten“. In ihren Teppichen ist allein die Sonnenseite bewahrt.