Kolumne „Mehrwert“, Folge 33: Das bedrohte Klassenzimmer
Eines der ersten Opfer im Krieg ist die Bildung. Nicht nur, weil Schulen bombardiert werden, sondern weil Kriegstreiber kein Interesse daran haben, dass Menschen, zumal junge Menschen, zur Wahrheitsfindung von ihrem Verstand Gebrauch machen. In den von Russland besetzten Gebieten werden ukrainische Lehrerinnen und Lehrer zunehmend gezwungen, nach dem russischen Lehrplan zu unterrichten.
Einem Amnesty-Bericht zufolge sind Lehrkräfte in Charkiw, Cherson, Mykolajiw und Saporischschja Repressalien, Misshandlungen und Entführungen ausgesetzt, wenn sie sich weigern, mit den Besatzungsbehörden zu kooperieren. So wurde etwa ein Schuldirektor entführt, geschlagen und beschimpft, anderen droht der Entzug von Sozialleistungen, des Rechts auf Gesundheitsversorgung und der Reisefreiheit.
Geschichtsunterricht besonders oft betroffen
In Russland selbst wurde 2023 ein einheitliches Geschichtsbuch für die 11. Klasse eingeführt, mitverfasst vom Präsidentenberater und Ex-Kulturminister Wladimir Wedinski. Darin fungiert die Ukraine-Invasion als militärische Spezialoperation, die Krim-Annexion als Rückeroberung russischen Gebiets und der Westen als aggressiv russophob. Eines der ersten Opfer auch jeder Autokratie ist die Bildung. Besonders häufig trifft es den Geschichtsunterricht.
Indoktrination im Klassenzimmer steht jedenfalls überall dort auf dem Lehrplan, wo Faktenkenntnis die Macht autoritärer Herrscher gefährden könnte. In der Türkei lässt Präsident Erdoğan seit Jahren Bücher über die Kurden oder mit „obszönen“ Inhalten verbieten, auch Fibeln und Kinderbücher.
In Hongkong wurden 2022 unter chinesischer Führung das Fach „Liberal Studies“ abgeschafft und das Fach „Patriotismus“ eingeführt, Lehrer:innen müssen einen Treueeid leisten. In Indien werden Schulbücher im Sinne des Hindu-Nationalismus umgeschrieben: Das Kapitel zur Herrschaft der muslimischen Mogul-Kaiser wurde ebenso gestrichen wie die Passage zu den antimuslimischen Pogromen in Gujarat 2002. Der heutige Premier Modi war damals dort Regierungschef.
Und wie steht es um die book bans in den USA? Laut PEN America wurden dort allein im letzten Schuljahr 10.000 Bücher aus Schulbibliotheken entfernt, viele zu Rassismus-, Frauen- und LGTBQ-Themen, die meisten in Florida und Iowa. Zu den jüngst verbannten Titeln zählt auch James Baldwins Autobiografie „Go Tell It On the Mountain“.
10.000, das sind viermal so viele wie 2021/22. Es ist zu befürchten, dass die Zahl weiter steigt, sollte Donald Trump es ins Präsidentenamt schaffen.
Christiane Peitz schreibt in dieser Kolumne regelmäßig über Menschenrechte, Diskriminierung und Zensur.