Ein jüdisches Leben: Shelly Kupferbergs Buch über ihren Urgroßonkel Isidor
Als Israel Geller sich 1908 mit seinen Brüdern Rubin und Nathan vom ostgalizischen Kolomea auf den Weg nach Wien macht, beschließt er während dieser Reise, seinen Vornamen zu ändern. Er wird sich Isidor nennen, manchmal auch Innozenz, manchmal Ignaz. Fest entschlossen, es zu etwas zu bringen, ahnt er, der 1886 in dem Schtetl Tlumacz als Sohn eines Talmud-Gelehrten geboren wurde, dass er mit einem jüdischen Vornamen keine Karriere in der k. u. k. Metropole machen kann.
Isidor bekommt eine Stelle als Sekretär bei der „Häute- und Lederzentrale AG“, arbeitet sich hier zum leitenden Direktor hoch, wird Kommerzialrat, fungiert später als wirtschaftlicher Berater des österreichischen Staats. Er verdient Millionen, wohnt in riesigen, hochherrschaftlichen Wohnungen, sammelt Kunst und ist begeistert vom kulturellen Leben Wiens, besonders die Oper hat es ihm angetan.
Was seine jüdische Herkunft und den zunehmend offenen Antisemitismus anbetrifft, gibt er sich gelassen und pragmatisch: „Das seien lediglich vorübergehende Erscheinungen, mal mehr, mal weniger, die es zu überwinden galt – es kämen gewisse andere Zeiten, in denen auch die schlimmsten Antisemiten anerkennen müssten, was Juden alles geleistet hatten, gerade hier in Wien sei das doch augenfällig und unübersehbar.“
Wie lebte es sich fortan für die wenigen, die nur um ein Haar überlebten?“
Shelly Kupferberg in ihrem Buch
So schreibt es die 1974 in Tel Aviv geborene Berliner Radiojournalistin Shelly Kupferberg in ihrem Buch „Isidor. Ein jüdisches Leben.“ Isidor Geller war ihr Urgroßonkel. Er starb 1938, nachdem er von seinen Angestellten denunziert worden war und die Nazis ihn drei Monate in Haft genommen, auf dass er ihnen den Großteil seines Besitzes abtrete.
Kupferberg hat Gellers Leben in privaten und öffentlichen Archiven recherchiert, einerseits in Wien, hier ist sie im Österreichischen Staatsarchiv unter anderem dem Verbleib von Isidors Besitztümern nachgegangen. Andererseits in Tel Aviv, wo sie Briefe ihrer Großeltern in deren Wohnung gefunden hat.
Ihr Großvater Walter Grab, Sohn von Isidors Schwester Fejge, 1919 geboren und später Historiker, hatte in jungen Jahren engen Kontakt zu seinem Onkel. Jeden Samstag ging er 1935 zum Mittagessen zu Isidor, und 1938 verbrachte Walter bei dem Onkel die letzten Wochen vor der eigenen Ausreise nach Palästina. Walter war schockiert von den vielen Demütigungen durch die Nazis nach dem sogenannten Anschluss und in ahnungsvoller Voraussicht der Dinge, die da noch kommen sollten.
Kupferbergs Großvater Walter ging bei Isidor ein und aus
Kupferberg erzählt den Werdegang ihres Urgroßonkels mit dem, was ihr aus den Erzählungen und Briefen Walters und eben aus den Archiven zur Verfügung stand. Dabei füllt sie geschickt Lücken auf und imaginiert das bewegte gesellschaftliche Leben Isidors im Wien der dreißiger Jahre, gerade in der Opernszene, ohne dabei in den leicht übergriffigen Einfühlungsgestus eines Florian Illies zu verfallen. „Der kinderlose Kommerzialrat war ein verschwenderischer Gastgeber, er liebte den Luxus und wusste, was er wollte.“
Ihr Fokus liegt auf Isidor, und doch schweift Kupferberg häufig ab und porträtiert andere Menschen aus Isidors Umfeld: seine Schwester Fejge, die nach einer ersten, unglücklichen Ehe mit ihrer Mutter und ihrem Sohn ebenfalls nach Wien kommt und hier ihr Glück findet. Erfolg hat sie mit einem Hutsalon. Oder die Sängerin und Schauspielerin Ilona Hajmássy, Geliebte und Schützling von Isidor, die von Metro-Goldwyn-Mayer-Talentspähern nach Hollywood gelockt wird. Sie spielte dort später in diversen großen Produktionen mit, unter anderem an der Seite von Marilyn Monroe.
Isidor starb 1938 nach der Inhaftierung durch die Nazis
Oder den Anzugsschneider Kurt Goldfarb, der ahnt, was auf ihn zukommt und Isidor immer wieder vor den Nazis warnt. Kurt und seine Frau Ella schaffen es wie so viele nicht rechtzeitig wegzukommen: Er starb 1943 im Ghetto von Lodz, sie 1944 in Auschwitz. Immer mal wieder greift Kupferberg vor und skizziert mit nüchternen Sätzen weitere Schicksale. So wie auch im Fall der Familie des zweiten Mannes von Isidors Schwester, die fast gänzlich von den Nazis ermordet wurde. Es folgt die Frage der Autorin: „Wie lebte es sich fortan für die wenigen, die nur um ein Haar überlebten?“
Kupferberg geht gleichermaßen sachlich wie einfühlsam vor, bedient sich hier offen bei den Dokumenten, erzählt dort die Geschichten vor dem Hintergrund der politischen Historie. So setzt sie den Menschen ein lebendiges Denkmal, vor allem natürlich Isidor und seiner, ihrer Familie, aber auch den vielen anderen. Ihr Buch demonstriert, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Opfer des Holocausts zu bewahren. Der Schrecken jener Zeit wird erst durch die Vergegenwärtigung jedes einzelnen Schicksals begreifbar.
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