Wir sind alle Wellen auf demselben Meer
So unergründlich die Liebe und ihre Gründe sein mögen – wer seine Liebe erklärt, erklärt etwas von sich. Arnold Stadler unternimmt eine „Liebeserklärung“ im doppelten Wortsinn, und es gelingt ihm dabei ein Doppelporträt.
Im Jahr 1976, als er gerade aus dem Priesterseminar in Rom an die Universität Freiburg geflohen war, verliebte sich Stadler in die Bildwelt des amerikanischen Malers Mark Tobey. Hier wäre das Wort „verguckte“ wirklich unangebracht, denn diese augenöffnende Liebe auf den ersten Blick traf auf ein höchster Bewunderung und tiefer Zuneigung würdiges Objekt.
[Arnold Stadler: Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey. Hanser Verlag, München 2022. 170 Seiten, 30 €.]
„Glowing Fall“ hieß dieses strahlende Werk, dem Stadler wenige Monate nach dem Tod des seit 1960 in Basel lebenden Künstlers verfiel. Tobey ließ darin herbsterdig glühende Umbra- und Goldocker-Töne von randständigen Partien aus leuchtendem Azur halten und von linearen Gesten in Schwarz grafisch markant überspielen.
Reißen von Oberflächen
Die ästhetische Erfahrung von Lichtfülle, der Gleichzeitigkeit von Vergangenem und gegenwärtiger Bewegung, ließ sich da machen. Eine Dynamik ins Offene, die Schönheit der Versöhnung der Sphären, flirrende, freudige Lebensbejahung setzt Tobey ins Bild. Und Verletzlichkeit, das Reißen von Oberflächen, das zarte Geäder unter dünner Haut. Stadler hatte derartige horizont- und emotionserweiternde Seherlebnisse immer wieder vor Tobeys Werken, unter anderem als häufiger Gast im Hause von dessen Galeristen Ernst und Hildy Beyeler in Basel.
Von da an rankte sich die Lebenslinie des Schriftstellers immer wieder um die des Malers. Stadler lässt sich diese Linien über die Zeiten hinweg kreuzen, wenn er von Tobeys Geburtsort Centerville nach Trempealeau reist und mit Blick auf den Mississippi über seine und Tobeys frühkindliche Prägung durch Natureindrücke, Barfuß-Kindheiten auf dem Land nachdenkt. Dort beginnt er dem nachzuspüren, was Tobeys Lebensmotto hätte sein können: „We are all waves of the same sea, we are all waves to the same sea“.
Diese Überzeugung grundiert die Hingabe des Künstlers an seine in vielen Verwandlungen stetig strömende lineare Bildsprache.
Stadler folgt Tobey nach Seattle, wo dieser bis zu seinem Lebensende ein zweites Atelier behielt. Und er findet Parallelen: Beide zog es sehnsüchtig, neugierig, weit und rastlos mäandernd in die Welt – Tobey unter anderem in den Vorderen Orient, 1934 nach China und Japan, wo er seinen „kalligrafischen Impuls“ erhielt und Monate in einem Zen-Kloster verbrachte. Stadler, nicht weniger weitgereist, schwärmt nicht nur seinem Freund Jim in Miami völlig wirkungslos, sondern auch zwei Amerikanerinnen aus Seattle am Kilimandscharo von Mark vor, versucht sie für dessen Kunst zu gewinnen – ein amüsanter Bericht über gänzlich verlorene Liebesmüh.
Verzicht auf Theorie
Tobey hatte keine Theorie, weiß Stadler, und fühlt sich ihm darin verwandt. Stadler nennt sich einen Künstler wie Tobey, einen „Ausmaler“, der sich empathisch spekulierend in dessen Leben und Werk hineinversetzt. Und das tut er mit Verve, Spürsinn und Feingefühl.
Schließlich besucht Stadler die St. Alban-Vorstadt in Basel. Da gleichen sich die Bilder plötzlich. Der Mississippi und das Rheinknie in nächster Nähe zum Haus mit der Nummer 69, an dem, zu Stadlers Leidwesen, noch nicht einmal eine Tafel auf den einstigen Bewohner hinweist.
Er denkt über Tobeys Lebensmenschen und -gefährten nach, Mark Ritter und Pehr Hallsten, den befreundeten und benachbarten Pfarrer Paul Hassler, wie sie durch diese Straße gingen und wie heute Menschen hier leben, lieben und einander betrügen.
Tobeys Rang ist historisch unbestritten. Schon 1966 hatte Wieland Schmied erkannt, dass er, der 1958 statt Mark Rothko den Preis der Biennale von Venedig erhalten hatte, lange vor Jackson Pollock still mit seinen „White Writings“ – wie weich ins Wasser gezeichnet und doch unvergänglich – die Geschichte der Malerei neu geschrieben hatte. Seine All-over-Skripturen setzten 1935 ein. Mit ihnen verwob der Künstler, der 1918 die Religion der Bahai angenommen hatte, filigran seine Empfindung für das energetische Einssein allen Lebens mit der Wahrnehmung der vibrierenden Dynamik einer modernen Großstadt wie New York.
Kompositorische Hierarchie
Pollock warf erst 1943 vergleichbar Abstraktes expressiv mit großer Geste ins gigantische Format und hatte Tobeys Werke überdies zuvor sehr wohl gesehen, was sein einflussreicher Apologet Clement Greenberg wohlweislich verschwieg. Da hatte Tobey längst das Bild vom Diktat der kompositorischen Hierarchie, der Konstruktion räumlicher Illusionen und der Fokussierung aufs Zentrum befreit. Wo Pollock tanzte, meditierte Tobey.
Dass seine Pioniertat bis in die sechziger Jahre hinein weniger hoch veranschlagt wurde, ist für Stadler auf Greenbergs Ressentiment Tobeys Homosexualität gegenüber und seine Fixierung aufs Bild viriler Künstler-Heroen zurückzuführen.
Der Kritiker verbannte Tobey deshalb in die zweite Reihe. Pollocks „action painting“ zeigt rauschhaft den Körper, Tobeys poetische Linienkunst den um Klarheit bemühten Geist in Bewegung. Auch das macht seine konzentrierten Werke tief, zum Widerhall jenes inneren Raums, den er nach eigenem Bekunden kontemplativ zu formen suchte, für Stadler geheimnisvoll, nicht rätselhaft.
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Tobey selbst verstand seine Kunst nie als abstrakt. Im Gegenteil war sie für ihn dem Leben und der Natur abgeschaut und zugewandt. Seine feinstofflichen Gewebe sind inspiriert vom Blick aus nächster Nähe aufs Übersehene, die untergründige, die kaum wahrnehmbare Struktur, den vitalen Fluss in allem. Und durch den Blick ins All, ins wunderbare Weite – und zurück.
Was Stadler bei Tobey aufspürt, ist Gleichklang in heiteren und nachdenklichen Momenten. Wir lieben, das lässt sich hier aus jeder Seite lesen, was uns glücklich macht. Dieses Doppelporträt zweier Romantiker ist so dicht und transparent gemalt wie ein Bild von Mark Tobey, glücklich geglückt.