Direkt da – und gleich wieder weg?
Oliver Christensen betrat den Platz um kurz vor elf und wurde von Torwarttrainer Andreas Menger, seinem Chef, mit einem kräftigen „Urlauber, grüß dich!“ empfangen. Der Rest der Mannschaft trainierte da schon eine gute Stunde. Dass Christensen eine Stunde zu spät dran war, stimmte trotzdem nicht. Im Grunde kam er genau eine Woche zu spät.
Im Sommer hat Hertha BSC den Torhüter aus Dänemark verpflichtet, als verlässliche Nummer zwei und möglichen Ersatz für den Fall, dass Alexander Schwolow einmal ausfallen sollte. Als genau das am Samstag im Spiel beim SC Freiburg passierte, weil Herthas Stammtorhüter sich mit dem Coronavirus infiziert hat, stand Christensen, 22, leider nicht zur Verfügung. Wegen einer Muskelverletzung war er vier Wochen lang ausgefallen. Erst am Sonntag, einen Tag nach der Partie in Freiburg, kehrte er auf den Trainingsplatz zurück.
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So war es nicht Christensen, sondern ein anderer junger Torhüter, der die Chance nutzte und auf sich aufmerksam machte. Trainer Tayfun Korkut bot Marcel Lotka auf, 20 Jahre alt und eigentlich die Nummer fünf unter Herthas Torhütern. Für Korkut war der polnische U-21-Nationalspieler „ein kleiner Lichtblick“ bei der 0:3-Niederlage des Berliner Fußball-Bundesligisten in Freiburg, „mit seiner Leistung war ich sehr zufrieden“.
An den drei Gegentoren, darunter ein Elfmeter, war Herthas Torhüter schuldlos. Im Gegenteil: Lotka hielt sogar mehr, als er hätte halten müssen. Einen Freistoß des Freiburger Freistoßspezialisten Vincenzo Grifo zum Beispiel, der genau im Winkel gelandet wäre. Gerade fünf Minuten waren gespielt, als Lotka, der bis dahin noch keine Ballberührung gehabt hatte, erfolgreich durch die Freiburger Lüfte flog. „Das hat ihm Selbstbewusstsein gegeben“, sagte Korkut.
Herthas Trainer war generell wenig verwundert von dem erwachsenen Auftritt seines Torhüters. „So habe ich ihn kennengelernt“, sagte er, „sehr mutig.“ Lotka strahlte etwas aus. Er war keineswegs der kleine Junge aus dem Nachwuchs, dem vor lauter Aufregung die Knie schlotterten, weil er endlich mal bei den Großen mitspielen durfte. Lotka motivierte und animierte seine Mitspieler, er war forsch und frech. So forsch und frech sogar, dass am Morgen nach dem Spiel die Frage gestellt wurde, ob Lotka nach seinem Bundesligadebüt wirklich wieder in die zweite Reihe würde zurücktreten müssen.
Lotka soll sich mit Borussia Dortmund einig sein
Diese Frage war ebenso forsch wie berechtigt. Zum einen, weil sich Alexander Schwolow noch mindestens bis Mitte der Woche in Quarantäne befindet; zum anderen, weil Herthas Nummer eins schon vor seinem krankheitsbedingten Ausfall beim Publikum keineswegs unumstritten war. Korkut hat Schwolow und seine Position immer gegen aufkommende Kritik von außen verteidigt, aber im Abstiegskampf kommt es eben auch auf das Momentum an. Und das scheint am Samstag – trotz der Niederlage – auf Lotkas Seite gewesen zu sein.
„Fragen Sie mich das jetzt nicht!“, antwortete Korkut auf die Frage nach der künftigen Hierarchie unter den Torhütern. Eine klare Festlegung vermied er schon deshalb, weil noch gar nicht klar ist, ob Schwolow am Samstag im Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt überhaupt schon wieder zur Verfügung steht. „Ich will’s Ihnen mal so beantworten“, sagte Herthas Trainer. „Ich mache mir keine Sorgen auf der Torhüterposition, grundsätzlich nicht. Da haben wir genügend Optionen.“
Marcel Lotka übrigens könnte schon bald keine dieser Optionen mehr sein. Am Tag nach seinem Bundesligadebüt vermeldete der „Kicker“, dass der gebürtige Duisburger seinen am Saisonende auslaufenden Vertrag nicht verlängern werde. Er sei sich mit Borussia Dortmund über einen Wechsel im Sommer einig.
Beim BVB ist er für die U 23 vorgesehen, die in der Dritten Liga spielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Marcel Lotka bis dahin die Nummer eins von Hertha BSC in der Bundesliga sein wird, dürfte damit etwas kleiner geworden sein.