Die Liebe, roh und blutig
Man kann über die Obsession des Venedig Filmfestivals mit Hollywoodstars und den Oscars sagen, was man will – aber es wäre unfair, die „Mostra“ auf den Glamourfaktor zu reduzieren. Man zeigt am Lido auch seine Liebe für die Underdogs und Stammgäste, die inzwischen eine Wild Card für das Festival haben. Paul Schrader zum Beispiel, dessen neuer Film „The Master Gardener“ am Wochenende erwartet wird und der bei der Gelegenheit auch gleich noch den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk abholen kann.
Oder den Dokumentarfilmer Frederick Wiseman, der nicht nur am Lido in seiner über sechzigjährigen Karriere eine treue Anhängerschaft gefunden hat. Als sein Name auf der Leinwand auftaucht, brandet kurz Applaus auf, mit 92 Jahren dürfte er auch der älteste Teilnehmer im Venedig-Wettbewerb sein. Es ist eine doppelte Premiere – für Wiseman im Wettbewerb und dazu noch mit seinem ersten fiktionalen Film. In dem geht es dann irgendwie auch um die Liebe.
„A Couple“ ist ein kleiner Film, nur 64 Minuten lang und während der Pandemie mit der Schauspielerin Nathalie Boutefeu entwickelt und gedreht. Boutefeu trägt, während sie durch die satte Natur an der bretonischen Küste wandert, aus den Tagebüchern von Sofja Tolstoi vor. Sie schreibt über ihr Unglück, zur Rolle der Ehefrau des russischen Großschriftstellers und Mutter von dreizehn Kindern verdammt zu sein, seinen Unmut über ihre Versuche, Autonomie einzufordern, seine Eifersucht und ihre zunehmend schwankenden Gefühle.
Eine verheiratete Frau findet ihre Stimme
„A Couple“ nimmt dabei konsequent die Perspektive einer Frau ein, die jung geheiratet hat und nun nach ihrer Stimme sucht. Der Films wirkt in seiner Konzentration auf Boutefeus Gesicht und dank Tolstois Text frappierend zeitlos. Es ist auch das erste Mal, dass Wiseman eine gesellschaftliche Institution, in diesem Fall die Ehe, von einer historischen Warte aus betrachtet – und dabei ein genauso präzises und emphatisches Bild entwirft wie in seinen mehrstündigen Dokumentarfilmen.
Auch Luca Guadagnino ist ein Venedig-Stammgast, zuletzt drehte er ein paar Kilometer südlich in Chioggia die großartige Miniserie „We Are Who We Are“ über GI-Kids auf einer US-Militärbasis. Sein Wettbewerbsbeitrag „Bones and All“ ist ebenfalls ein,im weitesten Sinne, Liebesfilm – allerdings mit einer blutigen Note. Die Teenager Maren und Lee verbindet ein Geheimnis, das sie zwingt, außerhalb der Gesellschaft und ihrer Familien zu leben: Sie sind Kannibalen.
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Doch Guadagnino, der wieder mit seinem „Call Me by Your Name“-Star Timothée Chalamet arbeitet, zeigt wenig Interesse an dem Horror-Motiv – wobei es in einigen Szenen auch durchaus drastisch zugeht. Stattdessen ist „Bones and All“ ein zärtliches Coming-of-Age-Roadmovie über zwei junge Außenseiter im Amerika der 1980er, mit Reagan-Reden und New Order im Radio. Ihr Fleischkonsum ist hier eine sehr buchstäbliche Metapher für den Prozess der adoleszenten Identitätsfindung, doch Guadagnino behandelt das Thema nicht als Wegwerf-Witz (auch wenn seinem anderen „Call Me by Your Name“-Star Armie Hammer mittlerweile von Ex-Freundinnen ebenfalls blutige Sexfantasien vorgeworfen werden).
Guadagnino erweist sich einmal mehr als Regisseur, der sehr einfache Geschichten unkonventionell erzählt, mit einem fantastischen Gespür für seine jungen Darsteller. Taylor Russell ist als Maren phänomenal. Und der blutverschmierte Timothée Chalamet dürfte seine Fans auf dem roten Teppich mächtig verstören.