Die Frauenfrage und das Recht auf Selbstbestimmung

Charlotte Gainsbourg sieht ihrer Mutter Jane Birkin immer ähnlicher. Das feine Profil, die helle, ruhige Stimme, der Anschein des Alterslosen, ihre verhaltene Emotionalität – auf der Pressekonferenz beim Filmfest Venedig spricht sie über ihre Rolle in Michel Francos Acapulco-Film „Sundown“. Gainsbourg spielt eine wohlhabende Britin, die während des Familienurlaubs im Luxusresort vom unerwarteten Tod ihrer Mutter erfährt.

Gainsbourgs Tränen bei der Telefonszene, ihr Schock, es war der erste Take. Nichts Fabriziertes, sondern spontan. Der erste Take hat oft etwas Rohes, alle weiteren Takes dienen dazu, dieser Wahrhaftigkeit beizukommen, meint Tim Roth, der im Film den spontan in Mexiko bleibenden und sich dort treiben lassenden Bruder von Gainsbourgs Figur verkörpert.

Halbzeit beim 78. Venedig-Filmfestival: In den Pressekonferenzen zu den Wettbewerbsfilmen geht es persönlicher zu als in den ersten Tagen beim Science-Fiction-Blockbuster „Dune“ oder bei Paul Schrader. Er habe das Drehbuch mitten in einer psychischen Krise geschrieben, erzählt Michel Franco, dessen Sozialthriller „New Order“ 2020 am Lido Premiere feierte und der gerade in den deutschen Kinos läuft. „Filme zu drehen, nimmt mir die Angst.“ Im Alter von elf Jahren habe er einen wichtigen Menschen verloren, die Verlusterfahrung spiele bei all seinen Arbeiten eine wichtige Rolle.

Ob es um die unbarmherzige Sonne in Acapulco geht (ja, ein Motiv aus Camus‘ „Der Fremde“), um eine brutale Begegnung Francos mit der dortigen Polizei oder Gainsbourgs Wahrhaftigkeit, auf dem Podium herrscht große Offenheit.

Wie verletzend können Kritiken sein? Auch das ist Thema

Ähnlich ist es beim Gespräch über Xavier Giannolis Balzac-Adaption „Illusions perdues“. Der opulente Kostümfilm über die Geburt der Massenmedien in der Mitte des 19. Jahrhunderts veranlasst die Schauspieler, laut über ihr Verhältnis zur Kritik im Zeitalter von Twitter und Instagram nachzudenken. Es sei ein Stückweit normal, dass man auch angegriffen wird, meint der Regisseur.

Während die belgische Starschauspielerin Cécile de France freimütig meint, sie sei durchaus nervös, wenn ein Film neu herauskommt, äußert sich ihre junge Kollegin Salome Dewaels unbekümmerter. Sie ist vor allem neugierig auf die Reaktionen des Publikums. Wenige Stunden später defiliert sie in einer bodenlangen Robe mit fast durchsichtigem Oberteil über den roten Teppich. Ein feministisches Statement à la Femen? Postfeminismus?

Regisseurin Audrey Diwan (2. v. r.) mit den Darstellerinnen von “L’èvénement” Anna Mouglalis, Luana Bajrami, Louise Orry Diquero…Foto: REUTERS/Yara Nardi

Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, darum geht es auch beim Pressetalk zu Audrey Diwans französischem Wettbewerbsbeitrag „L’événement“, der Adaption von Annie Ernaux‘ autobiografischer Erzählung „Das Ereignis“. Anne, eine junge Literaturstudentin, wird ungewollt schwanger. Sie will das Kind nicht, aber Abtreibungen sind Anfang der 60er Jahre verboten.

Die Frauen auf dem Podium sprechen über die damals undenkbare Trennung von sexueller Lust und Liebe, über die Einsamkeit und die Stille, die Anne umgibt, weil sie sich niemandem anvertrauen kann. Darüber, wie der eigene Körper zum Feind wird. Schließlich findet Anne eine Frau, die den verbotenen Eingriff bei ihr vornimmt: Annie Ernaux ist damals beinahe daran gestorben.

Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei, Jahrgang 1999, wusste vor dem Dreh nicht, wie lange Abtreibungen noch illegal waren. Ein Tabuthema ist es bis heute, und keineswegs Geschichte, so Diwan und die Schauspielerinnen. In vielen Weltregionen ist Abtreibung nach wie verboten, selbst in vielen US-Staaten wird sie wieder kriminalisiert.

Zu den unvollkommenen Müttern gesellen sich die abwesenden Väter

Die unvollkommenen Mütter, das Frauen-Image in der Medienöffentlichkeit, das Recht auf Selbstbestimmung: Ganz schön weiblich, das Filmfest auf dem Lido. Wenigstens der Venezulaner Lorenzo Vigas, Gewinner des Goldenen Löwen 2015, nimmt mit einer Vater-Sohn-Geschichte am Wettbewerb teil.

Ein Junge hängt sich an einen Mann, der seinem für tot erklärten Vater gleicht. Lateinamerika ist ein matriarchale Gesellschaft, sagt Vigas bei der Pressekonferenz zu „La caja/The Box“. Die Mütter ziehen die Kinder groß, die Väter sind außer Haus. Deshalb suchten sich die Menschen einen Vater-Ersatz, und seien es Despoten wie Juan Perón oder Hugo Chavez, so Vigas. Der Archetyp des abwesenden, idealisierten lateinamerikanischen Vaters: Das Bild fügt sich gut zu den Frauengeschichten der 78. Mostra.