Der Weltenversöhner: Zum Tod von Dževad Karahasan

Was Krieg in einer Zeit bedeutet, die zumindest Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg schon als Beginn eines ewigen Friedens ansehen wollten, hat er bis in den letzten Alltagswinkel ausgeleuchtet. Die Belagerung seiner Heimatstadt Sarajevo durch bosnische Serben im April 1992, die sich mit 1425 Tagen zur längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts auswuchs, wurde Dževad Karahasan zum persönlichen Trauma, zum historischen Paradigma und zum Inbegriff von Möglichkeit und Unmöglichkeit eines ethnisch-religiösen Pluralismus zugleich.

Das „Tagebuch einer Übersiedlung“, das 2021 in der Neuübersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber nach fast 20 Jahren noch einmal revidiert erschien, gehört zu den großen literarischen Dokumenten des jugoslawischen Zerfalls – und weit darüber hinaus. Das verzweifelte Festhalten an einer Idee von Humanität, die inmitten von Hunger und Heckenschützen kaum noch aufrechtzuerhalten war, war etwas, das man dem muslimisch geborenen und von Franziskanern erzogenen Karahasan nicht mehr austreiben konnte. Auch sonst hatte er am eigenen Leib erfahren, dass das Eigene sich nur am Fremden ausbildet: Wer man ist, erschließt sich nie im Singular.

Als ihm 1993 die Flucht aus der eingekesselten Stadt nach Graz gelang, hatte der promovierte Literatur- und Theaterwissenschaftler schon ein erstes Leben als Professor für Dramaturgie und Geschichte des Theaters wie als Schriftsteller und Publizist hinter sich. Den Bosnienkrieg als Erfahrungsraum wurde er nicht los, und so wenig er müde wurde, ihn nach allen Richtungen auszumessen, so wenig ermüdend waren die Aspekte, die er ihm abgewann.

Erfahrungsraum Sarajevo

„Der nächtliche Rat“, in dem er einen in Berlin lebenden bosnischen Arzt 1991 im heraufziehenden Unheil nach Foča zurückkehren ließ, tat das mit allen Ingredienzen von Krimi, Liebesroman und philosophisch-theologischem Raisonnement. Es war der Roman, den er selbst wohl für seinen wichtigsten hielt. „Der Trost des Nachthimmels“ rund um Omar Chayyam, einen persischen Mathematiker, Astronom und Dichter des 11. Jahrhunderts war, stofflich weit ausgreifend, vielleicht sein ehrgeizigster. Das offene und heimliche Zentrum seines Denkens und Erzählens blieb das belagerte Sarajevo, wie „Schahrijârs Rind“, „Sara und Serafina“ oder sein erst im vergangenen Januar erschienener Roman „Einübung ins Schweben“.

Mit Entschiedenheit betrachtete er den Bosnienkrieg, wie er einmal im Gespräch mit dem Tagesspiegel sagte, nicht als religiösen Konflikt, sondern als „Aggression eines nazistischen Regimes“: „Der Völkerhass in Jugoslawien wurde von oben, von den politischen Machthabern sehr geschickt produziert. Die sogenannten einfachen Menschen hassen sich gar nicht. Sie haben so viele andere Sorgen, dass ihnen gar keine Zeit bleibt, ihre Nächsten zu hassen.“

Einen Teil des kulturellen Erbes, den er auf geradezu altmodische Weise gegen diese blutrünstige Feindesherstellung mobilisieren wollte, fand er ausgerechnet in Deutschland. Für Goethe, schrieb er, seien der islamische Orient, wie er im „West-östlichen Divan“ erscheine oder auch das Südosteuropa, wie es Herders „Klaggesang von der edeln Frauen des Asan Aga“ präge, „ganz normale, wirkliche Welten, in denen vernünftige Menschen siedeln“. Er, der sich als Teil eines osteuropäischen Kontexts sah, liebte die Aufklärer Lessing und Diderot, aber auch die Antirationalisten Kleist, Büchner und E.T.A Hoffmann und den emigrantischen Spötter Heine.

Für seine Arbeit ist Dževad Karahasan, ein Mann von überwältigender Freundlichkeit und Warmherzigkeit, vielfach ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dass ihn nun in Graz eine Krankheit einholte, die er schon für besiegt hielt, ist auch angesichts der Pläne, die er noch hatte, selbst in einer Welt der Ungerechtigkeiten nicht gerecht. Am Freitagmittag ist er in Graz wenige Monate nach seinem 70. Geburtstag gestorben.