Der Aufzug ist immer kaputt
1988 wurde ich in Darmstadt geboren, einer Universitätsstadt in Südhessen, zerbombte Altstadt, große Unternehmen, bürgerliche Stadtgesellschaft, genau 18 Minuten mit der Regionalbahn vom Frankfurter Bahnhofsviertel entfernt.
Ungefähr genauso lang dauert die Fahrt mit der S-Bahn aus Offenbach zum Frankfurter Hauptbahnhof. In Offenbach wurde 1985 ein Aykut Anhan geboren. Ich hatte das Glück, in einem ruhigen Häuschen im Grünen aufzuwachsen. Anhan verbrachte seine Kindheit und Jugend in den Hochhäusern am Main.
Als mein Vater mit mir Matheaufgaben übte, verlor Anhan mit 14 Jahren den seinen an Depressionen und Spielsucht. Als ich Ballett- und Klavierunterricht bekam, fing der Halbwaise an Drogen zu verticken. Als ich für mein Abitur paukte, war er schon lange von der Schule geflogen und entging in der Türkei einem Haftbefehl, der dann zu seinem Künstlernamen wurde.
Zwei Leben, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Was sie eint: Wir sind Kinder der Diaspora, die zweite Generation, die Kids, die in deutschen Krankenhäusern geboren sind und trotzdem erstmal als „Ausländer“ geführt wurden.
Es ist dieses Aufwachsen in der Diaspora, dieses Leben zwischen den Welten, das Anhan, mittlerweile als Haftbefehl in seinen mehrsprachigen, vertrackten Texten einfängt. Allen voran in „Chabos wissen wer der Babo ist“ von seinem dritten Album „Blockplatin“, dem Über-Hit, mit dem der Offenbacher eine Line für die Ewigkeit schuf und das Jugendwort des Jahres lieferte.
Der Nachfolger „Russisch Roulette“ von 2014 manifestierte sowohl seine Stellung als Feuilleton-Darling für die sogenannte Mehrheitsgesellschaft als auch als Abi, also Bruder, oder gleich Baba Haft für alle, die nach Jahrzehnten und Generationen im Land immer noch als vermeintliche Fremdkörper in der Gesellschaft gesehen werden. Dann folgte erstmal nicht viel, ein Mixtape hier, einige Features da, ein beachtenswertes Kollaborationsalbum mit dem Bonner Rapper Xatar, aber der große Wurf, der ließ auf sich warten.
Bis letztes Jahr. Mit „Das Weiße Album“ lieferte der Rapper ein Album, das ganz unzeitgemäß in der heutigen TikTok-optimierten Musikbranche vor allem als Gesamtkunstwerk funktionierte. Selbst die Singles sträubten sich gegen ihre Bestimmung.
Die Erzählungen sind dichter als auf dem Vorgängerwerk
Darauf hörte man einen Haftbefehl, der sich jedem Flow verweigert, der singt und schreit und die Codes des deutschen Hip-Hops fast schon karikiert. Nun also der Nachfolger, wobei das gar nicht mal stimmt. „Das Schwarze Album“ ist eher Bruder oder dunkles Spiegelbild als eine Fortentwicklung.
In den wenigen Interviews, die der Künstler zum Album gegeben hat, erzählt er, dass es ihm ein leichtes sei, den harten Haftbefehl rauszulassen. Das letzte Werk sei künstlerischer gewesen, hätte länger gedauert. „Das schwarze Album“ ist dafür in wenigen Monaten entstanden.
[„Das Schwarze Album“ erscheint am 30.4. bei Azzlackz (Urban)]
Was allerdings ganz schön bescheiden ist, denn „DSA“ wirkt noch mehr aus einem Guss, die Erzählungen sind dichter, das Narrativ in sich geschlossener. Er ist „wieder am Block“ schreit er den Hörer:innen entgegen, Haftbefehl ist wieder genau da, wo er herkommt, wo seine Kindheitsfreunde immer noch unterwegs sind.
Seine Texte sind roher, direkter, unmittelbarer als vielleicht je zuvor, sie werfen sich den harten Beats seines langjährigen Kollaborators Bazzazian entgegen, ringen sie nieder, hinab ins Herz der Finsternis. Reime, die eine Welt beschreiben, hässlich wie sie nur eine Nacht im Bahnhofsviertel sein kann. Drogenhandel, maßlose Brutalität, Sexismus.
Natürlich kann man sich fragen, wie authentisch es wohl noch ist, als glücklich verheirateter Familienvater und Eigenheimbesitzer vom Verkaufswert einer Lieferung Crack zu rappen – aber eigentlich geht es gar nicht darum.
Texte voller Gewalt und Frauenverachtung
Denn hört man Haftbefehls Flow und seine Zeilen, ist die Cracklieferung zwar keine Metapher – schließlich betont er immer wieder, dass seine Texte nah an der Realität bleiben und gefärbt sind von eigenen Erfahrungen und denen seiner Freunde, die noch im Milieu hängen –, aber nur Beiwerk. Aus seinen Zeilen sprechen vielmehr tiefe Verletzungen und Zerrissenheit, Schmerz und, wie einer seiner alten Songs schon hieß, Depressionen im Ghetto.
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Haftbefehl zu hören, bedeutet auch die Ambivalenz zu umarmen. Sind die Texte teilweise abgrundtief gewaltvoll und frauenverachtend? Ja, selbst er gibt es zu – und berichtet, dass er nicht möchte, dass seine Frau seine Musik zu Hause spielt. Gleichzeitig gibt es nur wenige andere Künstler:innen und noch weniger Rapper:innen, die sich so verletzlich machen, so offen über Depressionen sprechen wie Haftbefehl.
Er hat nicht nur seinen Vater und andere Familienmitglieder an die Krankheit verloren, sondern, wie er zugibt, auch selbst immer wieder mit depressiven Momenten zu kämpfen und kann sich manisch in seine Arbeit verlieren.
Das zeigt sich zum Beispiel in „Lebe Leben“, wo er fast verzweifelt und alles andere als lebensfroh in Dauerschleife „Bitch, ich lebe Leben“ schreit. Oder dem grandiosen „Offen/Geschlossen“, eine Elegie auf Kokain und Gewalt, die keinerlei Lust auf den Lifestyle macht: „Trau dich nicht in unsere Gegend / Denn traurig unser Leben“. Selbst wenn er über Konsumgüter, dicke Karren und fette Beute spricht, über vergoldete Zähne und feinste Schnäpse, wirkt all das kaum erstrebenswert. Sie können die Leere und den Schmerz nicht übertünchen.
Einer der stärksten Tracks ist zweifellos das erste Stück, „Kaputter Aufzug“. Lakonisch erzählt Haftbefehl vom Leben vor Haftbefehl, von der Kindheit des Aykut Anhan. Er spannt den Gegensatz zwischen Offenbach, den Hochhäusern, in denen die Aufzüge immer kaputt sind und es im Treppenhaus nach Blech riecht, wo man seiner Mutter hilft, die eingekauften Wasserflaschen in den 16. Stock zu tragen.
Und dort, wo „sie“ leben, die Professoren und Besserverdiener. Wo es nach Orchideen riecht, wo ich aufwuchs, mein Darmstadt, wo die Welt in Ordnung zu sein scheint, zumindest wenn man die Augen zukneift. Und Haftbefehl? Der wohnt jetzt übrigens auch in Darmstadt.