Das MeToo-Filmdrama „Menschliche Dinge“: Die Wahrheit bleibt ein blinder Fleck

Eine MeToo-Versuchsanordnung: Alexandre (Ben Attal), 22, französischer Elite- Student, kommt für ein paar Tage von Stanford nach Paris, weil sein Vater einen Orden bekommt. Mila (Suzanne Jouannet), 17, die Tochter des neuen Freunds seiner Mutter, begleitet ihn auf eine Party und zeigt ihn danach der Vergewaltigung an. Er sagt: Der Sex im Schuppen war einvernehmlich, sie hat nicht Nein gesagt. Sie sagt: Er hat ein Messer in seiner Tasche erwähnt, ich habe mich aus Angst nicht gewehrt. Vor Gericht werden beide Versionen detailliert aufgefächert.

Ein mutmaßlicher Täter, ein mutmaßliches Opfer, viele Wahrnehmungen: Alexandres Vater spielt die mögliche Tat zu einer „Sache von 20 Minuten“ herunter. Für Milas Mutter, eine orthodoxe Jüdin, ist Sex bei Teenagern ein Tabu, auf das Trauma der Tochter reagiert sie streng moralisch. Was geschah tatsächlich im Schuppen? Die Wahrheit, ein blinder Fleck.

Vielleicht ist die Wahrheit das öfter in MeToo-Fällen: nicht eindeutig zu ermitteln. Menschen verhalten sich widersprüchlich und irrational, Erinnerungen sind trügerisch. Filme haben die Möglichkeit, diesen Graubereich zu erkunden, die Irritationen und Kompliziertheit jeglicher Interaktion. „Menschliche Dinge“ von Yvan Attal tut dies allerdings weniger, als dass er sich auf die Aufregungen rund um den blinden Fleck konzentriert. Auf das, was sich um die Vergewaltigungsklage herum anlagert, im Privatleben von Alexandres und Milas Familien wie in der Öffentlichkeit des Gerichtssaals.

Dass es zu reichlich öffentlicher Erregung kommt, liegt an Alexandres VIP-Eltern, prominent besetzt mit Pierre Arditi und Charlotte Gainsbourg. Jean, der alternde Starjournalist, wird explizit als Womanizer in Szene gesetzt. Er zerrt eine Praktikantin ins Bett, um sich seiner nachlassenden Potenz zu vergewissern – und später ein Kind mit ihr zu haben. Soll der Zuschauer jetzt denken, ist ja kein Wunder, dass der Sohn dieses Machos ähnlich drauf ist?

Die Essayistin und Feministin Claire wiederum, die von Gainsbourg verkörpert wird, kann sich der Häme ihrer Kritiker:innen sicher sein. In Talkshows vertritt sie die Ansicht, dass die von Migranten ausgehende Missbrauchs-Gefahr von der Gesellschaft verharmlost wird. Soll sie mal die Klappe halten und lieber die Schuld ihres eigenen Sohns eingestehen.

Das 2021 in Venedig uraufgeführte Familiendrama basiert auf dem Erfolgsroman „Les choses humaines“, der den wahren „Stanford-Fall“ von 2015 aufgreift. Zudem lässt der Regisseur die eigene Familie mitwirken (er ist Gainsbourgs Ehemann, Ben Attal ihr gemeinsamer Sohn), dennoch überwiegt anstelle von Wahrhaftigkeit der Eindruck des Konstruierten.

Es beginnt bei den Formaten. Cinemascope für die Haupterzählung, Handybilder und körniges Video für die Party-Rückblenden – so bleiben die Gegenwart und das Trauma optisch voneinander getrennt. Es setzt sich fort mit der Aufteilung in Kapitel, in denen Milas Perspektive und die ihrer weniger prominenten Angehörigen deutlich weniger beleuchtet werden als die von Alexandres Star-Familie. Opfer gelten als unattraktiv, sie werden zu wenig gehört: Will Attals Film darauf hinweisen, indem er es selber so hält?

Gegen Ende, nach gut 130 Minuten, nähert er sich parallel zum spannungsgeladenen Gerichtsdrama dem Tatort, dem nächtlichen Schuppen. Die beiden verlassen die Party, sie wollen Drogen nehmen, er öffnet die Tür, sie folgt ihm, und Cut. Die Wahrheit in Sichtweisen und Erinnerungen aufzulösen und eine neutrale Position einzunehmen – liebes Publikum, Entscheiden Sie selbst! –, verhöhnt nicht zuletzt auch das Opfer.

Denn immer existiert ein nicht relativierbarer Kern, den zum Beispiel Eva Trobisch in ihrem Drama „Alles ist gut“ (2018) aufgezeigt hat. Auch da ist es eine Party, beide betrunken, nee, lass mal, sagt sie, dann liegt er auf ihr. Die Zuschauerin kann sich ein Bild machen, das Geschehen nachempfinden. Wann ist ein Nein ein Nein, explizit oder nicht? Die ehrlichere Antwort ist selten die des Täters.

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