Das kurze Leben der Lili Boulanger
Sie ist zwanzig – und will unbedingt wissen, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Da sind noch so viele Noten in ihrem Kopf, die raus wollen, aufs Papier und dann auf die Bühne. Lili Boulanger, 1893 in eine Pariser Künstlerfamilie geboren, hat 1913 als erste Frau den begehrten „Prix de Rome“ gewonnen, ein Staatsstipendium für angehende Komponisten. Doch sie ist chronisch krank, seit Kindertagen. 1918 schon reißt ihr dünner Lebensfaden.
In der Stunde ihres Todes spielt „Lili“, das von Änne-Marthe Kühn und Bernhard Glocksin erdachte, von Andrea Pinkowski inszenierte Musiktheaterstück, mit dem die Neuköllner Oper jetzt die frühreife Künstlerin feiert. Als eine lebenshungrige junge Frau, die sich weder von der strengen Mutter (Ursula Renneke) noch von der bedächtigen Schwester Nadja (Josephine Lange) bremsen lassen will. Die brennt, für die Musik ebenso wie für die Liebe, gerade weil sie weiß, wie zerbrechlich ihr Glück ist (weitere Aufführungen bis 18. Mai).
Kunst und Realität werden miteinander verwoben
Elegant verweben Kühn und Glocksin Szenen aus Lili Boulangers Leben mit Aufführungen von drei ihrer 50 Werke, die Markus Syperek geschickt für ein siebenköpfiges Ensemble arrangiert hat. Schauspiel geht über in Gesang und gleitet wieder zurück ins biografische Geschehen, ganz organisch, dank der sechs hingebungsvollen Solist:innen.
Johanna Link ist eine kämpferische Lili, die selbstbewusst vorwärts stürmt, durch gläserne Decken bricht, gesellschaftliche Konventionen ignoriert, bis der nächste Krankheitsschub sie ausbremst. Sie begehrt ihre Freundin Miki Piré ebenso wie ihren Komponistenkollegen Claude Delvincourt – die sich in der Neuköllner Oper konsequenterweise zu Interpreten ihrer Stücke verwandeln.
Beeindruckend: Merlin Constanze Pohl als Helena und Miki
In der Kantate „Faust et Hélène“, dem vom zweiten Teil des Goethe-Dramas inspirierte Siegerstück des „Prix de Rome“- Wettbewerbs wird Miha Brkinjac zum Mephisto und Merlind Constanze Pohl zur schönen Helena, nach der sich Chunho Yous Faust mit heldisch strahlendem Tenor verzehrt. Vor allem die junge Mezzosopranistin fasziniert dabei mit ihrer Bühnenpräsenz: Sie ist radikal in allem, was sie tut, tanzt entfesselt, zieht auch im Flüsterton die Aufmerksamkeit auf sich, vermag im Gesang französische Textverständlichkeit mit Ausdruckskraft zu verbinden.
Lili Boulanger hätte die erste weltweit anerkannte Komponistin der Musikgeschichte werden können – so souverän, wie sie bereits in jungen Jahren die klanglichen Möglichkeiten des Sinfonieorchesters zu nutzen wusste. Nach dem inspirierenden Abend in der Neuköllner Oper will man das unbedingt bald auch in großen Konzertsälen hören