Nur ein „miserables Gemälde“
Die „documenta fifteen“ geht erst in ihre zweite Woche, und sie dauert noch bis zum 25. September. Und doch scheint es so, als hätte die angebrachte Aufregung um antisemitische Bildmotive im Banner „People’s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi aus der Kunstschau alle Energie herausgesaugt.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]
Das Wimmelbild ist abgehängt. Die einen könnten jetzt sagen, die Lücke, die Leerstelle zeigt nur umso deutlicher, dass Antisemitismus in Deutschland ungebrochen eine faktische, eine sichtbare Größe ist. Stimmt schon: Die Documenta geht am 25. September, der Judenhass bleibt.
Eine andere, hoffentlich zulässige Beobachtung wäre diese: Es bleiben immer noch rund 1500 Objekte in Kassel, vorausgesetzt, ihre penible Untersuchung fördert keine weiteren Skandale zu Tage.
Nicht zuletzt, um dieser Documenta Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wäre es mehr als angebracht, nochmals eine Introspektion der Gesamtschau anzusetzen. Versammelt sich hier wahre Weltkunst oder werden schlichte Weltverbesserungsvorschläge unterbreitet?
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat sich bereits ein Urteil zurechtgelegt. Mit Blick auf das inkriminierte Banner hat er der „Berliner Zeitung“ gesagt: „Wir beobachten die Mobilisierung einer postkolonialen Intellektualkultur.“ Man habe mit der Künstlergruppe aus Indonesien „ganz bewusst ein peripheres Künstlerkollektiv zum kollektiven Kurator der Ausstellung bestimmt und damit ein Zeichen gesetzt: Man möchte lieber von der Peripherie her interpretiert werden, als selber zu interpretieren“, sagt Sloterdijk: „Das Unrecht, im vormaligen Zentrum zu stehen, wird so stark empfunden, dass man lieber Interpretation erleidet als ausübt.“
Sloterdijk betonte: „Für die Experten ein klarer Fall von antisemitischer Propaganda. Mir genügte ein kurzer Blick: ,Miserables Gemälde‘.“ Jedes zusätzliche Wort sei Verschwendung.
Unterschied zwischen hochwertigem und billigem Antisemitismus?
Natürlich hat auch Sloterdijks Intervention ihre beträchtliche Schwäche, alldieweil er subkutan zwischen hochwertigem und billigem Antisemitismus unterscheidet. Schon seltsam, wenn dieser und jeder weitere -ismus nach ästhetischen Kategorien ausdefiniert wird.
Aber Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn er in sein leichtes Ekelgefühl nicht auch Bedenkenswertes mischte. Der Philosoph meint, „wie kein anderer Bereich ist Kunst durch Überproduktion definiert“. Vor allem schlechte Kunst sei so reichlich vorhanden, dass man fünf parallele Documentas organisieren könnte. Ein Vorwurf, der weit über Kassel hinausweist, und doch schon an dieser Schau überprüft werden kann. Joachim Huber