Das Comic-Manifest und seine Folgen: „Die Anstrengungen lohnen sich“

Bestseller-Autorin Cornelia Funke, Fernsehmoderator Ulrich Wickert, „Ärzte“-Musiker Bela B.: Es waren prominente Namen, die sich auf der Unterstützerliste fanden. Zehn Jahre ist es am 2. September her, dass rund 100 Menschen aus der deutschen Kultur- und Medienlandschaft das „Comic-Manifest“ unterzeichneten und beim Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) präsentierten.

„Wir fordern, dass der Comic dieselbe Anerkennung erfährt wie die Literatur und bildende Kunst und entsprechend gefördert wird“, lautete damals eine Kernforderung der Erklärung, die auf die Initiative des damaligen ilb-Direktors Ulrich Schreiber zurückging. 

„Persepolis“ ebnete der Weg

Der Appell traf den Nerv der Zeit. Anspruchsvolle Bilderzählungen für erwachsene Leserinnen und Leser hatten in den Jahren zuvor in Feuilletons, Museen und auf Literaturfestivals Einzug gehalten. In vielen Buchhandlungen gehörten Graphic Novels – also lange Comicerzählungen in Buchform – inzwischen zum festen Repertoire, Bestseller wie Marjane Satrapis gezeichnete Familiengeschichte „Persepolis“ über ihre Jugend im Iran hatten den Weg geebnet.

Illustre Unterstützer: Zahlreiche Künstler, Verleger und andere am Comic Interessierte haben das Manifest verfasst, am 2. September 2013 stellten sie es beim Internationalen Literaturfestival Berlin vor.
Illustre Unterstützer: Zahlreiche Künstler, Verleger und andere am Comic Interessierte haben das Manifest verfasst, am 2. September 2013 stellten sie es beim Internationalen Literaturfestival Berlin vor.
© Lars von Törne

Doch wirtschaftlich stand die Entwicklung auf einem schwachen Fundament. „Während Film, Theater, Musik und andere Künste — zu Recht — öffentlich gefördert werden, konnten die Zeichner, Szenaristen und Verlagsmitarbeiter ihre beachtlichen Erfolge nur durch Selbstausbeutung erreichen“, hieß es im Comic-Manifest. Daher sei es höchste Zeit, den Comic ebenso wie die anderen Kunstformen mit staatlichen und privaten Förderprogrammen zu unterstützen.

Zehn Jahre später zeigt sich, dass diesbezüglich viel erreicht worden ist, wenngleich noch einiges im Argen liegt.

Es ist heutzutage viel einfacher, eine Finanzierung für Comicprojekte zu erhalten.

Axel Halling, Deutscher Comicverein.

Einen besonders großen Erfolg konnte die Szene vor wenigen Wochen feiern: Der vom Bund finanzierte Deutsche Literaturfonds hat Anfang Juli verkündet, erstmals in seiner 43-jährigen Geschichte auch Comicschaffende finanziell zu fördern, vergleichbar mit Schriftstellern. Dafür wurde ein neues Programm aufgelegt, das bis zu fünf Comic-Stipendien in Höhe von 3000 Euro monatlich für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr ermöglicht.

„Das ist ein Meilenstein in der Kulturförderung des Bundes“, sagt Axel Halling, Vorsitzender des Deutschen Comicvereins. Die Organisation wurde 2014 in Folge des Comic-Manifests gegründet, setzt sich für die Anerkennung und Stärkung des Comics als eigenständige Kunst- und Kulturform ein und hat sich zu einem einflussreichen Akteur entwickelt.

Axel Halling, Vorsitzender des Deutschen Comicvereins, gezeichnet von Sheila Roswitha Putri.
Axel Halling, Vorsitzender des Deutschen Comicvereins, gezeichnet von Sheila Roswitha Putri.
© Illustration: Sheila Roswitha Putri

So gibt es in Berlin seit 2017 das Comic-Stipendium des Senats, das direkt auf die Lobbyarbeit des Comicvereins und anderer Akteure der Berliner Szene zurückzuführen ist. Dutzende Künstlerinnen und Künstler hat die Kulturverwaltung der Hauptstadt seitdem bei ihrer Arbeit unterstützt. Aktuell liegt die jährliche Fördersumme bei 192.000 Euro.

Gefördert und preisgekrönt

Das zahlt sich auch für das Publikum aus: Unter den vom Senat geförderten Comics befand sich unter anderem die vergangenes Jahr veröffentlichte Episodenerzählung „Work-Life-Balance“ über die Abgründe der modernen Arbeitswelt von Aisha Franz. 2022 wurde das Buch auf dem Internationalen Comic-Salon Erlangen als bester deutschsprachiger Comic ausgezeichnet, die Tagesspiegel-Kritikerjury kürte es ebenfalls als einen der Top-Titel des Jahres.

Mit einem Comicstipendium gefördert: Eine Seite aus „Work-Life-Balance“.
Mit einem Comicstipendium gefördert: Eine Seite aus „Work-Life-Balance“.
© Reprodukt

Auch der dokumentarische Comic „Hinterhof“ über den Alltag einer Sexarbeiterin von Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer, dessen Entstehung mit einem Senatsstipendium gefördert worden war, fand sich auf der Tagesspiegel-Bestenliste 2022.

„Es ist heutzutage viel einfacher, eine Finanzierung für Comicprojekte zu erhalten“, sagt Axel Halling vom Comicverein. Neben einer höheren Anzahl direkter Förderungen ausschließlich für Comics wie in Berlin und inzwischen auch in Hamburg sowie privaten Förderprojekten wie dem 2014 ins Leben gerufenen Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung hätten sich zudem viele Institutionen entschlossen, ihre Ausschreibungen auch für Comic zu öffnen.

Einiges was damals gefordert wurde hat sich teilweise eingelöst.

Sascha Hommer, Comiczeichner

„Einiges was damals gefordert wurde hat sich teilweise eingelöst“, bilanziert Sascha Hommer. Er arbeitet als Comiczeichner („Spinnenwald“) in Hamburg, war 2013 einer der Unterzeichner des Manifests und hat sich neben einer Lehrtätigkeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften viele Jahre lang auch als Organisator des Hamburger Comicfestivals engagiert, das zusammen mit der Landesregierung 2019 einen jährlichen Comicförderpreis etabliert hat.

Sascha Hommer arbeitet auch als Comic-Dozent, hier bei einem Workshop im Berliner Museum für Kommunikation (dritter von links).
Sascha Hommer arbeitet auch als Comic-Dozent, hier bei einem Workshop im Berliner Museum für Kommunikation (dritter von links).
© Lars von Törne

„Ich war damals nicht sicher ob ich das Manifest unterschreiben soll, denn der ganze Tonfall gefiel mir eigentlich nicht besonders“, erinnert sich Hommer. „Letztlich wollte ich die guten Ziele aber doch unterstützen.“ Dass inzwischen in einigen Bereichen Fortschritte zu sehen sind, sei vor allem der „geduldigen und ausdauernden Arbeit einiger weniger Aktivist*innen, insbesondere in Berlin“ zu verdanken: „Vor allem die aus dem Deutschen Comicverein geleistete (kultur)politische Arbeit ist hier hervorzuheben.“

Insgesamt ist es im Vergleich zu Literatur und bildender Kunst immer noch sehr viel schwieriger, finanzielle Förderung zu bekommen.

Birgit Weyhe

„Da hat sich in den vergangenen zehn Jahren einiges getan“, sagt auch Comiczeichnerin Birgit Weyhe, die ebenfalls in Hamburg lebt und im vergangenen Jahr auf dem Internationalen Comic-Salon als beste deutschsprachige Comic-Künstlerin ausgezeichnet wurde. Sie gehörte ebenfalls zu den Erstunterzeichnenden des Comic-Manifests und hat einige Jahre auch für den Tagesspiegel gearbeitet.

Birgit Weyhes aktuelles Buch „Rude Girl“ schaffte es im vergangenen Jahr auf die Shortlist des Hamburger Literaturpreises als Buch des Jahres und war dieses Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Birgit Weyhes aktuelles Buch „Rude Girl“ schaffte es im vergangenen Jahr auf die Shortlist des Hamburger Literaturpreises als Buch des Jahres und war dieses Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
© Vera Drebusch

Zwar sei es insgesamt im Vergleich zu Literatur und bildender Kunst in Deutschland immer noch sehr viel schwieriger, finanzielle Förderung zu bekommen, sowohl was die Stipendien betrifft, als auch Preisgelder, schränkt Weyhe ein. Dennoch habe sich einiges getan: „Allein, dass es jetzt extra Comic-Stipendien beim Deutschen Literaturfonds gibt ist fantastisch!“ Dafür sei sie allen, die dafür Lobbyarbeit geleistet haben, sehr dankbar. 

In Hamburg sei einer der Literaturpreise inzwischen explizit für Comics ausgeschrieben worden, sagt Weyhe. Von der wachsenden Anerkennung der Kunstform Comic habe sie auch persönlich profitiert: „Das renommierte Hamburger Lessing Stipendium ging an mich – das war sensationell, weil das bisher nur für Literatur und Philosophie galt.“ Ihr aktuelles Buch „Rude Girl“ schaffte es im vergangenen Jahr auf die Shortlist des Hamburger Literaturpreises als Buch des Jahres und war dieses Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. „Das zeigt, dass die Grenzen aufweichen“, sagt Weyhe.

In Deutschland wirkt die Ehrfurcht vor dem Text immer noch sehr, sehr stark, auf Kosten von Bildern.

Ulli Lust, Comiczeichnerin

„Die Anstrengungen lohnen sich“, sekundiert Ulli Lust, Comiczeichnerin in Berlin und mit Büchern wie der autobiografischen Erzählung „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ international erfolgreich. Sie begrüßt, dass es inzwischen mehrere Stipendien für Comicschaffende gebe, deren Summen sich mittlerweile „etwas mehr dem Bedarf angepasst“ hätten.

Ulli Lust arbeitet neben der Arbeit an ihren eigenen Werken auch an der Hochschule Hannover als Comic-Dozentin.
Ulli Lust arbeitet neben der Arbeit an ihren eigenen Werken auch an der Hochschule Hannover als Comic-Dozentin.
© Promo/Alex Englert

Insgesamt gehe die 2013 im Manifest geforderte stärkere Anerkennung der Kunstform Comic hierzulande aber nur mit „Babyschritten“ voran. „Dagegen wirkt in Deutschland Ehrfurcht vor dem Text immer noch sehr, sehr stark, auf Kosten von Bildern“, sagt Ulli Lust: „Das narrative Bild war lange etwas, dass „die Imagination des Lesers einschränkt“, etwas Überflüssiges. Das hängt uns noch nach.“

Verlage in Not

„Wir stehen erst am Anfang einer positiven Entwicklung“, schränkt dagegen Verleger Dirk Rehm ein. Er hat 1991 in Berlin den Verlag Reprodukt gegründet, der inzwischen eine Institution des deutschen Autorencomics ist. Vor kurzem wurde er zum vierten Mal mit dem Deutschen Verlagspreis 2023 ausgezeichnet.

„In Sachen Fördermöglichkeiten und Stipendien „haben wir seit 2013 Riesenschritte gemacht“, sagt Rehm. Allerdings werde „deutschen Comic-Autor:innen bei weitem noch nicht die Anzahl der Fördertöpfe angeboten, aus denen die Schriftsteller:innen schöpfen können.“

Dirk Rehm hat mit seinem Verlag Reprodukt im vergangenen Jahr eine erfolgreiche Crowdfunding-Aktion organisiert.
Dirk Rehm hat mit seinem Verlag Reprodukt im vergangenen Jahr eine erfolgreiche Crowdfunding-Aktion organisiert.
© Kai-Uwe Heinrich TSP

Fortschritte wie die Nominierung von Birgit Weyhes „Rude Girl“ für den Preis der Leipziger Buchmesse blieben „zumindest vorerst eher die Ausnahme als die Regel“, sagt Rehm. Und sie machten sich bislang auch wirtschaftlich kaum bemerkbar.

„Wo in Frankreich bei einer Auszeichnung in Angoulême gleich die nächsten Druckauflagen in Auftrag gegeben werden, verhallt bei uns ein Max & Moritz-Preis ungehört, mit keinerlei Auswirkungen auf die Verkaufszahlen“, sagt der Verleger. „Auch die Tatsache, dass die Besucherzahl beim Internationalen Comic-Salon in Erlangen gefühlt seit mindestens zwanzig Jahren bei 25.000 verbleibt, spricht für eine stabile Ignoranz des deutschen Publikums dem Medium Comic gegenüber.“ 

In Sachen Comic sind wir immer noch Hinterwäldler.

Dirk Rehm, Verleger

Erfolg haben, konstatiert Rehm, in der Regel Comics mit aktuellen kulturellen oder politischen Bezügen oder Adaptionen von literarischen Bestsellern. „Für Comics, die nichts davon vorzuweisen haben, sondern „nur“ die Grenzen des Mediums erweitern oder neu ausloten wollen, gibt es ein Lesepublikum, das mit Glück eine vierstellige Zahl erreicht.“ Sein Fazit: „In Sachen Comic sind wir immer noch Hinterwäldler.“

Wir prekär das wirtschaftliche Fundament der heimischen Comicszene nach wie vor ist, war in jüngster Zeit daran zu sehen, dass gleich drei für die Kunstform wichtige unabhängige Verlage wegen steigender Rohstoff- und Energiepreise, sinkender Kaufkraft und anderer Faktoren in existenzielle Krisen geraten waren.

Reprodukt konnte sich 2022 mit einer Crowdfunding-Aktion eine finanzielle Atempause verschaffen, bei der mehr als 70.000 Euro zusammenkamen, um das Herbstprogramm zu sichern. Der Züricher Verlag Edition Moderne konnte im Juni dieses Jahres eine Crowdfunding-Aktion zu seiner Rettung gar mit 120.000 Euro Unterstützungszusagen durch seine Fans abschließen.

Keine wirtschaftlich tragfähige Zukunft für sich sieht hingegen der Stuttgarter Zwerchfell-Verlag, dessen Leiter kürzlich bekanntgaben, dass sie nach 35 Jahren Verlagsgeschichte ihre reguläre Produktion mangels Perspektiven einstellen.

„Vor allem die unabhängigen Verlage haben im Moment einen schweren Stand“, sagt Sascha Hommer. „Ohne Verlage ist die finanzielle Förderung von künstlerischen Projekten aber nur die Hälfte wert.“ Daher sollte neben der Förderung von Künstlerinnen und Künstlern die „strukturelle Förderung der Verlage“ ein weiteres Ziel sein.

„Gerade bei der Unterstützung von Projekten junger Autor:innen könnte ein Förderangebot ähnlich dem der Neustart Kultur sehr hilfreich sein“, sagt Verleger Rehm. Analog zu Filmförderung wäre für ihn auch ein Modell erstrebenswert, „bei dem es finanzielle Unterstützung gibt, die im Erfolgsfall zurückgezahlt werden würde.“

Zumindest in Teilen der Bundesregierung sollten die Forderungen auf offene Ohren stoßen: Die Ampelkoalition ist das erste Regierungsbündnis, das seinem Koalitionsvertrag explizit auch die Unterstützung der Kunstform Comic festgeschrieben hat.