Brennpunktschulen und Plattenbau: In David Wnendts Drama tritt der Klügere nach

Er hat nichts gesagt. Er hat nichts getan. Aber jetzt kriegt Lukas auf die Fresse.

Er wollte nicht durch den Park, doch seine beiden Kumpels sagten: Lass uns Bräute gucken in der Sonne – ablenken davon, dass wir die Schule schwänzen, dass wir noch zu weich sind, um selbst anderen auf die Fresse zu geben, dass wir uns noch nicht entscheiden können zwischen den beiden Glaubenssätzen, die hier im Hochhausviertel herrschen.

Der eine: Der Klügere gibt nach. Der andere: Der Klügere tritt nach. Lukas gibt nach. Und wird getreten.

Raum für Wut und Gewalt

Großsiedlung klingt harmloser, als es ist, hier zu leben. Die Gropiusstadt liegt nicht nur am Rande Neuköllns, sondern trotz ihrer aufragenden Blöcke auch am Rande Berlins.

Eigentlich weitläufiger geplant, wurde das von Walter Gropius entworfene Viertel für 35.000 Menschen wegen des Mauerbaus noch höher und enger gebaut.

Das ließ den gedrängten Menschen weniger Platz, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen; so entstand Raum für Wut und Gewalt, Sprachlosigkeit und Armut. In Berlin nennt sich das, fast schon verharmlosend, Brennpunkt. Hier finden oft nur Menschen einen Platz, für die woanders keiner ist.

Notausgang aus der Welt

Sonne und Beton. Daraus besteht das Leben, wenn die junge Jungscombo um Lukas, Julius, Gino und Sanchez oben auf den Dächern raucht, während unten im Park die Jugendcliquen Drogen verticken, sich „Scheißtürken“ und „Scheißdeutsche“ gegenseitig die Arme brechen.

Im 2003 spielenden Film „Sonne und Beton“ von David Wnendt, der am Sonnabend Premiere auf der Berlinale feierte, sieht und hört man das. Hier gelten nicht die Gesetze der Stadt, sondern die der Straße. Und 14-jährige Jungs suchen mit hektisch tastenden Augen nach einem Notausgang aus der Welt, die ihnen vorgezeichnet scheint.

Die Darstellercrew um Levy Rico Arcos spielt das glaubhaft und direkt, unterlegt von rauen Rapsongs, gedreht in den Dönerläden, Jugendklubs und Dreckecken des Viertels.

Gewalt gehört zum Alltag der jungen Menschen

„Figuren mit Widersprüchen reizen mich. Und eine gewisse Rauheit ist auch filmisch interessant“, sagt Regisseur David Wnendt beim Interview. „Ich möchte erzählen, wie es ist, wenn man 14 ist: Die Probleme erscheinen einem riesig. Mädchen sind weit weg, die Jungs sind weder die Coolsten noch Gangster noch Streber. Sie müssen ihren Weg dazwischen finden.“

Mit seinem Erstlingsfilm „Kriegerin“, in dem er die Wandlung eines rechtsradikalen Mädchens in Ostdeutschland zeigt und für das er den Deutschen Filmpreis erhielt, zeigte der Berliner bereits Feingefühl für jugendliche Brüche. Mit der Verfilmung von Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ gelang ihm ein Kassenerfolg.

Das Leben auf der Straße zu zeigen, vor den Fassaden der Häuser und hinter der Fassade der Menschen, ist Antrieb für den 46-Jährigen, der selbst von Neukölln nach Kreuzberg gezogen ist – mit Kind lebt es sich da leichter.

„Alle jungen Leute, mit denen wir für den Film gesprochen haben, haben schon Gewalt erlebt. Manche Schulen in Berlin sind die Hölle auf Erden, da sind Kinder täglich mit Gewalt konfrontiert.“

Teilweise etwas zu bemüht

Die Berlinale ist immer eine Reise um die ganze Welt. Sie hat politische Ambitionen, will unserem Dasein in die Seele und den Menschen ins Gesicht schauen.

In den vergangenen Jahren vervollständigen Kiezporträts aus abgehängten Gegenden in Berlin das Bild, das wir uns von uns machen können. Das tut der Berlinale gut, die mit ihrem Programm auch in die Stadt hereinwirken will.

An manchen Stellen wirkt „Sonne und Beton“ ein bisschen zu bemüht im Bemühen, die schattigen Stellen der Stadt knallhart auszuleuchten.

Als an der Brennpunktschule von Lukas ein Senatsvertreter vorbeikommt, um feierlich 50 Computer vorbeizubringen, sieht das Drehbuch vor, dass er auf der Bühnentreppe der Aula stolpert – und die Schülerschaft ihn auslacht.

Nicht immer ist das Berliner Dasein so platt wie ein Plattenbau, in dem Menschen leben müssen. An solchen Stellen hätte Wnendt noch stärker dokumentarisch beobachten sollen.

Wie das hervorragend gelingen kann, hat bei der vergangenen Berlinale die Dokumentation „Kalle Kosmonaut“ gezeigt, eine Langzeitdoku über das harte Leben eines Heranwachsenden an der Allee der Kosmonauten. Gerade läuft sie in den Kinos, auch in Neukölln.

Ist Freundschaft die Rettung?

Nächsten Donnerstag feiert „Sonne und Beton“ seine Ankunft als Film in Gropiusstadt. Geschichten von Menschen, die nur ein paar S-Bahn-Stationen entfernt sind und doch in einer anderen Welt leben müssen, gibt es in Berlin genug.

Was kann Lukas und viele andere Jungs in Berlin retten? Oft ist es Freundschaft. Mitgefühl von Menschen von nebenan, denen getretene Jugendliche nicht egal sind. „Wer war’n dit?“, fragt die Mutter des neu ins Hochhaus gezogenen Sanchez, als sie Lukas‘ kaputtgeschlagenes Gesicht sieht: „War’n dit deine Eltern?“ – „Nee“, antwortet er. – „Dann is ja jut“, sagt sie.

Manchmal gibt es Momente, in denen menschliche Empathie den Beton in uns zu brechen vermag. Diese Empathie zu zeigen und damit die eigene zu wecken, gelingt dem Film, der ab 2. März ins Kino kommt, umso besser, je länger er läuft.

Regisseur David Wnendt gelang mit der Verfilmung von Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ ein Kassenerfolg. 
Regisseur David Wnendt gelang mit der Verfilmung von Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ ein Kassenerfolg. 
© picture alliance/dpa

Dreckig, rotzig, witzig

Araber boxen, Hurensohn, ich schwöre, ich zerficke dir dein Gesicht! Der Wille, zu überleben, drückt sich auch in Gropiusstadt in der Sprache aus: direkt, dreckig, rotzig, manchmal witzig.

Noch stärker herausgearbeitet wird das im autobiografischen Roman-Bestseller von Felix Lobrecht. „Sonne und Beton“, erschienen 2017 im Ullstein Verlag, dringt durch Worte tief ins Milieu ein.

Die Sehnsucht der Menschen nach einem besseren Leben ohne Gewalt, Alkohol und Langeweile drückt sich in ihrer rauen Poesie aus. Im Drehbuch, das Wnendt und Lobrecht erarbeitet haben, kommen Nahaufnahmen von Gesichtern auf der Suche und Flüge mit der Drohnenkamera über die Hochhäuser hinzu.

Spannung bringt ein Kampf gegen die Zeit, um Geld aufzutreiben, bis fast einer der Jungs dabei draufgeht. Dazu gossige Hochhaussongs, die von vollen Menschen mit leeren Blicken handeln. Und eine junge Schauspielcrew, die auch mal mit Schweigen das Leben einfängt.

Alle wollen den Starken markieren

„Es war alles genau so. Vielleicht aber auch nicht.“ Das steht dem Film voran. Anhand kleiner Details macht er deutlich, dass sozialer Benachteiligung oft eine strukturelle inneliegt.

Lukas wird von Halbstarken nicht in die Schule gelassen, weil er seinen Schulausweis zu Hause hat liegen lassen. Zu Beginn eines verhängnisvollen Tages wird er von seinen Kumpels in den Schlamassel reingezogen, weil die sich in Unterzahl unbedingt mit den falschen Leuten anlegen müssen.

Alle wollen den Starken markieren und werden dabei zusammen schwächer. „Sonne und Beton“ ist ein Film, der mit Empathie dagegen ankämpfen will (und das manchmal zu offensichtlich versucht).

So hilft er, genauer hinzuhören und hinzugucken in der eigenen Stadt. Und er hilft, die Berlinale zu erden auf dem trockenen Sand, auf den Berlin seine zu engen Hochhäuser gesetzt hat.

Der Klügere gibt nach? Oder doch: Der Klügere tritt nach? Auf jeden Fall: Der Klügere guckt nach – wie es den Menschen geht, die gleich nebenan ein ganz anderes Leben leben.

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