Bob Dylan in Berlin: Kammermusik mit Handyverbot

Auch eine Never Ending Tour muss irgendwann enden, selbst die von Bob Dylan. Aber noch nicht jetzt, nicht hier. Seit fast einem Jahr ist der Literaturnobelpreisträger wieder unterwegs, auf seiner Rough and Rowdy Ways World Wide Tour benannten Konzertreise. Dylan ist inzwischen 81 Jahre alt, aber sein Pensum wirkt immer noch sagenhaft.

In zwei Kontinenten hat er bislang 88 Termine absolviert, wobei er nicht nur in den Metropolen New York und Los Angeles aufgetreten ist, sondern auch in Städten wie Little Rock, Meridian oder Flensburg. Die Stadien und Großarenen meidet er, im Herbst seiner Karriere macht der größte lebende Songwriter Kammermusik mit kleinem Gepäck.

Die Frage „How many roads must a man walk down?“ aus seinem sechzig Jahre alten Folkhit „Blowin’ in the Wind“ ist längst irrelevant geworden. Dylan läuft einfach immer weiter.

Bob Dylan hat es geschafft, sich konsequent allen Erwartungen zu entziehen. Das erste von drei Konzerten in der Berliner Verti Music Hall beginnt am Mittwochabend enigmatisch. Auf der dunklen Bühne setzt Rock’n’Roll-Rhythmus ein, dann sind die Silhouetten von sechs Musikern vor einem raumfüllenden roten Samtvorhang zu erkennen.

In der Mitte steht ein kastenförmiges, mit schwarzem Kunststoff verkleidetes Piano. Dahinter kann man einen dunkel gefärbten Lockenkopf erkennen. Der Lockenkopf ist Dylan, grummelnd singt er das Auftaktstück „Watching the River Flow“, einen sanft und schön fließenden, eher wenig bekannten Blues aus dem Jahr 1971.

Früher waren Dylans Konzerte Wundertüten mit von Tag zu Tag wechselndem Programm. Bei der Rough and Rowdy Ways Tour hat sich die Setlist nicht verändert, seit sie im letzten November in Milwaukee begann.

Im Mittelpunkt steht Dylans gleichnamiges, im Sommer 2020 herausgekommenes Album. „Rough and Rowdy Ways“ ist seine beste Platte seit „Time Out of Mind“ von 1997. Eine große Lebensrückschau, die wie ein Neuanfang klingt.

Acht der zehn Titel von „Rough and Rowdy Ways“ spielt Dylan an diesem Abend. Auf den bittersüßen Talking Blues „I Contain Multitudes“, in dem er Figuren wie William Blake, Anne Frank, Indiana Jones und die „British bad boys“ von den Rolling Stones aufruft, folgt das fröhlich schunkelnde Countrystück „False Prophet“, in dem er darauf besteht, nicht der zu sein, für den man ihn hält: „You don’t know me, darlin’“.

Bob Dylan singt kraftvoll und manchmal ein wenig nölend. Mancher Ton verrutscht ihm, aber ein Belcanto war er bekanntlich nie. Die Hit-Verweigerung in dieser Setlist ist eklatant. „Loke a Rolling Stone“, „The Times They Are a-Changin’“ oder „Knocking on Heavens Door“? Pustekuchen.

Stattdessen aber immerhin zwei Semi-Hits, die wunderbare, von Dylan flüsternd intonierte Liebesballade „I’ll Be Your Baby Tonight“ und das sich in einem Wall of Sound entfaltende Gospelstück „Gotta Serve Somebody“ aus dem Erweckungsalbum „Slow Train Coming“.

Zu den Höhepunkten gehört das sich sanft aus Piano-Geplänkel und E-Gitarren-Getucker herausschälende, der „Rough and Rowdy Ways“-Platte entstammende, Tod und Teufel verjagende Stück „Black Rider“. Dem schwarzen Unheilsvogel ruft Dylan entgegen: „Black rider, black rider, tell me when, tell me how / If there ever was a time, then let it be now.“

Seine von Gitarrenakkorden getragene Stimme klingt geschmeidig und angstfrei. Unklar, ob es sich um schwarzen Humor oder um die Beschwörung der letzten Dinge handelt.

Ähnlich doppeldeutig, ähnlich großartig ist die Seefahrerhymne „Key West (Philosopher Pirate)„, wiederum vom „Rough and Rowdy Ways“-Album. Zu karibischen Bongo-Rhythmen und gleißenden E-Piano-Girlanden räsoniert Dylan über das Glück an sonnigen Gestaden, über Piratensender, Hibiskus-Blüten und den Zauber von Florida. Er zitiert die Beat-Schriftsteller Allen Ginsberg und Jack Kerouac herbei. Sie sind Außenseiter wie er selbst, geboren auf der falschen Seite der Bahngleise.

Sanft endet das Stück, es verebbt wie die Meeresbrandung. Für einen Moment verlässt Bob Dylan seinen Platz hinter dem schwarzen Pianokasten, der an einen Sarg erinnert. Er tritt auf die Bühne, ein kleiner Mann, der in einem samtgrünen Country & Western-Hemd und einer zerknitterten schwarzen Jogginghose steckt. Zerbrechlich und gebrechlich sieht er aus, der mit 4000 Besuchern ausverkaufte Saal jubelt ihm zu.

Fotografen sind nicht zugelassen, alle Zuschauer mussten am Einlass ihre Handys ausschalten und in versiegelte Etuis stecken müssen. Niemand macht Schnappschüsse oder Selfies, keiner kann das schummrig leuchtende Display seines Mobiltelefons wie ein Feuerzeug hochhalten, wenn es besinnlich wird.

Dylan geht es um größtmögliche Aufmerksamkeit, vom Publikum erwartet er die Bereitschaft, sich in den Augenblick zu vertiefen. So entsteht eine beinahe intime Atmosphäre im mittelgroßen Auditorium.

Nach knapp zwei Stunden, als Dylan den Rausschmeißerblues „Goodbye Jimmy Reed“ gesungen hat, stellt er seine exzellente Begleitband vor: die Gitarristen Bob Britt und Doug Lancio, den Bassisten Tony Garnier, Schlagzeuger Charley Drayton sowie Donnie Herron an Violine, Pedal Steel Guitar und Lap Steel Guitar. Wieder großer Jubel.

Dann spielen sie noch „Every Grain of Sand“ vom 1981er Album „Shot of Love“. Zugaben gibt es bei Bob Dylan bekanntlich nie, aber er lächelt kurz. Ein phänomenaler Abend. Wer dabei war, wird noch lange schwärmen.

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