Arkadien liegt in Asche
Diese symbolische Gleichzeitigkeit, sie hat es noch nie gegeben. Als in Tokio gerade noch das olympische Feuer brannte, loderten die Flammen auch vor dem antiken Olympia auf dem griechischen Peleponnes. Nun ist der heilige Hain dort fürs Erste gerettet, doch brennt es nicht nur in anderen Teilen Griechenlands immer weiter. Brennt noch von der Türkei bis zur Adria, in glühender Hitze. Und dort, wo jetzt im südöstlichen Mittelmeerraum dem spärlichen Löschwasser etwas Regen folgt, sind Ländereien und einstige Wohnstätten zu Schutt und Asche geworden. Die Bilder der Realität scheinen hier in Negative verwandelt zu sein. Alles entfärbt, schwarzweißgrau, der Anblick der Aschewelt ähnelt lauter Röntgenaufnahmen.
Es sind Röntgenaufnahmen auch der inneren Weltkrankheit namens Klimawandel. Sie können derzeit ebenso aus dem brennenden Kalifornien stammen oder aus Russland. Nicht allein die Eiskappen der Pole schmelzen, die ökologischen Folgen der bereits im vergangenen Jahr in den sibirischen Weiten gewüteten Feuer sind noch unabsehbar. Nun brennt es erneut, auch in der Nachbarschaft russischer Atomanlagen. Fast vergessen sind in solchen Momenten die kriminell verstärkten Brandrodungen unter der Regierung Bolsonaro im brasilianischen Amazonasraum.
Die Grenzen des Wachstums
Wie bittere Ironie wirkt dann der zeitgleich mit den aktuellen Katastrophen veröffentlichte neue Bericht des Weltklimarats. Ein mit dramatischer Sachlichkeit formuliertes Menetekel angesichts jener Weltkrankheit, die auf dem industriell-zivilisatorischen Missbrauch des Planeten beruht. Ihn freilich hat bereits 1972 der damalige Club of Rome in einer Studie des Massachusetts Institute of Technology unter dem Titel „Grenzen des Wachstums“ beschrieben. Vor 50 Jahren.
Lange haben die meisten Menschen in Europa, darin nicht besser als ihre Regierungen, die Warnungen verdrängt. Haben sie verdrängen können, weil Europa, zumal seine Mitte, in recht gemäßigten Klimazonen lag. Natürlich gab es immer mal Sturmfluten und Hochwasser, auch in Deutschland (Hamburg 1962, im Oderbruch 2002). Aber diese galten als Ausnahmen, als Ausreißer. Dass etwa die Niederlande vom steigenden Meeresspiegel bedroht und die Friesischen Inseln nach seriösen Vorhersagen dem Untergang geweiht sind, vernimmt man allenfalls als apokalyptische Zukunftsmusik. Folglich boomen die Immobilienpreise in Amsterdam oder auf Langeoog kräftig weiter.
Die Einschläge kommen näher
Doch in den vergangenen Wochen ist etwas gekippt. Die Fluten in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz waren von einer Gewalt sondergleichen. Zerstörungen dieser Art hatte es in deutschen Städten seit dem Krieg nie mehr gegeben. Die Abbrüche ganzer Straßenzüge und Plätze erinnern nun eher an Bombenkrater, Bilder von Verzweifelten und ihrer frontal aufgerissenen Häuser könnten auch aus Syrien stammen. Politiker sprechen seitdem von einem „Jahrhundertereignis“. Doch das Jahrhundert ist erst zu einem Fünftel vorbei. Und die Einschläge kommen näher.
Zuerst zwei Dürresommer, dann das eben noch ersehnte Wasser als neues Unheil. Währenddessen scheuen sich Regierungen oder Opposition, selbst die Grünen, kurz vor der Bundestagswahl und angesichts der zur unmittelbaren Notabwendung anstehenden Kosten die weiteren wirklichen Kosten einer überfälligen Klimapolitik offen anzusprechen. Vermutlich sind hier sogar große Teile des Wahlvolks in der Erkenntnis schon weiter als ihre politischen Repräsentanten.
Erst die Flut, jetzt die Brände. Es mag noch keine „Menschheitsdämmerung“ sein – so der Titel einer legendären, vor gut hundert Jahren erschienenen Anthologie expressionistischer Lyrik nach dem Ersten Weltkrieg, der auch als Weltenbrand begriffen wurde. Doch dämmert es in immer mehr Köpfen. Wobei in Europa wohl das Bewusstsein wächst, dass die jüngsten Feuer am Mittelmeer, dem einstigen „mare nostrum“, auch rund um das kulturelle Herz des Kontinents lodern. Italien, Griechenland und die Türkei, es brennt nahe vielen historischen Stätten auch die Brücke in die Gegenwart. Ein Stück Identität.
Ein Hauch der Hölle
Für die kommenden Tage sind südlich von Rom auf dem italienischen Festland und für Sizilien Temperaturen von bis zu 48 Grad Celsius vorhergesagt. Da weht ein Höllenhauch, wie im amerikanischen Westen aus Death Valley. Das Wort „Inferno“ gehört so mittlerweile zum Vokabular des bis vor Kurzem auch in Italien noch überwiegend gemäßigten Sommers. Im Land des eben noch feiernden Fußballeuropameisters – zudem im Jubiläumsjahr des Höllendichters Dante.
Oftmals wirkt es so, als kehre alles immer wieder, als seien Wissenschaftler und Warner als Unerhörte bloß die neuen Hofnarren der Moderne. Beispielsweise brannte es in Griechenland schon 2007 über alle Maßen, auch rund um Olympia. Der Ort liegt in Arkadien, in der Landschaft, deren Name ein Synonym der großen Sehnsucht nach dem Süden bedeutet. Goethe, der den Ruinen des alten Griechenlands nur im süditalienischen Paestum und auf Sizilien begegnet ist, gab seiner „Italienischen Reise“ gleichwohl schon das Motto „Auch ich in Arkadien!“.
Vor anderthalb Jahrzehnten aber lag der griechische Peloponnes, lag das reale Arkadien bereits in Asche.
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Der in Istanbul geborene griechische Schriftsteller Petros Markaris, in Deutschland durch seine Romane mit dem Athener Kriminalkommissar Kostas Charitos bekannt, aber auch Übersetzer des „Faust“ ins Griechische, schrieb damals im Tagesspiegel: „Goethes Arkadien existiert jetzt nicht mehr. Ein Stück der griechischen Identität ist im Feuer aufgegangen. Denn auch für die modernen Griechen bezeichnen Olympia und die arkadische Landschaft nicht einfach nur mythische Orte. Griechenlands innere Wahrzeichen sind Athen, Delphi und Olympia, und dieses Dreieck ist heute versengt. Die lebendige, auch von weniger gebildeten Menschen empfundene Verbindung zwischen der Antike und Neugriechenland verkörpern die Weinberge und die Olivenhaine. Beide sind trotz aller zivilisatorischer Umwälzungen im Grunde unverändert geblieben. Diese bis eben noch lebendige Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, von Natur und Kultur haben die Feuer zerstört. Auf dem Peloponnes wurde zudem ein Herzstück Europas in Asche und Wüste verwandelt.“
Schon damals wurden, wie jetzt auch in der Türkei, der Mangel an Löschflugzeugen und Feuerwehren, fehlende Vorkehrungen in der Waldwirtschaft und rund um gefährdete Dörfer sowie Brandstiftung zur Umwandlung in Bauland oder kriminelle Fahrlässigkeit als Ursachen angeprangert. Hatten Behörden und Regierungen Besserung gelobt.
Brandstiftungen in Süditalien
Doch die gleichen oder ähnliche Probleme existieren in den Mittelmeerländern seit vielen Jahrzehnten. (In Deutschland, nebenbei gesagt, verfügt der staatliche Katastrophenschutz bislang über gar keine eigenen Löschflugzeuge.) Auch hat sommerliche Brandstiftung in Süditalien, mit und ohne Mafiabeteiligung, durchaus Tradition. Jedoch hatte es am Mittelmeer früher keine Sommerbrände in vergleichbarer Zahl und Intensität gegeben. So wenig wie Temperaturen, die sich der 50-Grad-Grenze nähern. Auch das sind jetzt unbezweifelbare Folgen des menschengemachten Klimawandels.
Die EU verkündet, Europa zum Vorreiter für den Klimaschutz und die Begrenzung der immer heftigeren Erderwärmung zu machen. Auch will Brüssel die brandgeschädigten Mittelmeerländer, zuvörderst Griechenland, nachhaltig unterstützen. Das freilich wäre die Gelegenheit, zusätzlich neue völkerrechtliche Initiativen anzustoßen. Der Gerichtshof in Den Haag wird nicht jeden übermäßigen Kohleausstoß belangen können. Aber der Brandstifter Bolsonaro wäre ein Fall: für die Anklage wegen eines vorsätzlichen Verbrechens. Nicht gegen die Menschlichkeit, wohl aber die Menschheit.