Schalten Sie nach dem Schlusspfiff am besten gleich ab
Liebe Leserinnen und Leser, freuen Sie sich schon auf das Finale der Fußballeuropameisterschaft am Sonntagabend? Viele tun das. Vermutlich rund 18 Millionen Deutsche werden das Spiel vor den Bildschirmen verfolgen.
Manche von ihnen werden irritiert sein, wenn direkt nach dem Abpfiff anstelle der Emotionen erstmal ein paar Werbeclips gezeigt werden. Etwa von Qatar Airways, der Fluglinie, die offenbar mit dem Deutschen Fußball-Bund über eine Kooperation verhandelt. Nach der Werbung kann aber gleich wieder mitgejubelt oder mitgelitten werden.
Fußball zieht immer noch, auch wenn er schon einmal ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Das Gleiche lässt sich im Vorgriff auf die Olympischen Spiele in knapp zwei Wochen in Tokio sagen.
Für die TV-Anstalten sind die Sommerspiele mit den vielen Wettbewerben und Emotionen ein Selbstläufer. Dass keine Zuschauer in den Stadien sein werden, schmälert das TV-Erlebnis. Aber es macht es nicht hinfällig.
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Das Geheimnis der Anziehungskraft des Sports liegt aber nicht nur an den Emotionen, die er freisetzt. Sondern auch an der Leichtigkeit, der bloßen Ästhetik der Bewegungen. Wer die Turnerin Simone Biles zum ersten Mal in Aktion sieht, dem stockt der Atem.
Kapitänsbinde in Regenbogenfarben
Und wenn der kleine italienische Fußballer Lorenzo Insigne am Sonntagabend zum Dribbling ansetzt, werden viele Zuschauerinnen und Zuschauer verblüfft sein – und in diesen Sekunden alles andere vergessen. Das alles und der Umstand, dass fast jeder daran teilhaben kann, haben den Sport zu einem Massenphänomen gemacht.
Aber wie unbeschwert, wie unschuldig kann und darf der Sport sein? Auch diese Europameisterschaft hat gezeigt, dass das Spiel für die Massen mehr als eine nur sportliche Komponente hat. Spieler gingen vor dem Anpfiff in die Knie, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen.
Der deutsche Torhüter Manuel Neuer trug die Kapitänsbinde in Regenbogenfarben auch aus Solidarität zu den Menschen in Ungarn, die die sexuelle Selbstbestimmtheit in ihrem Land durch ein neues Gesetz gefährdet sehen. Und nicht zuletzt flog ein Greenpeace-Aktivist halsbrecherisch in die Münchner Arena, um gegen den EM-Sponsor Volkswagen zu demonstrieren.
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Die Bühne des Sports ist so groß geworden, dass er sie nicht mehr exklusiv für sich nutzen kann. Das ist dem Sport im Übrigen nie gelungen. Das Mantra der großen Verbände, dass Politik und Sport strikt voneinander zu trennen seien, konnte nie eingehalten werden. Olympische Spiele sind instrumentalisiert oder boykottiert worden, Sport war einst Klassenkampf und gilt in vielen Länder bis heute auch als Zeichen der generellen Leistungsfähigkeit des Landes.
Erst China, dann Qatar
Unbefangen war der Sport nie, aber so schwer beladen mit so vielen anderen Themen wie aktuell war er wohl auch noch nicht. Schuld daran sind die großen Akteure des Sports freilich selbst.
Sei es das Internationale Olympische Komitee IOC, der Fußballweltverband Fifa oder seien es Vereine wie Paris Saint-Germain oder Manchester City – sie alle haben ihre wertvollsten Produkte (Olympische Spiele, Fußballweltmeisterschaften, Trikot- und TV-Werbung) ruchlos an die Meistbietenden verkauft. Wer zahlt und aus welchen Gründen er es tut, ist ihnen egal. Die vielzitierte Ethik des Sports ist völlig auf der Strecke geblieben.
So fanden die Olympischen Spiele 2008 in Peking statt und werden in einem halben Jahr schon wieder dort ausgetragen, weil die Kommunistische Partei politische Propaganda nach innen wie nach außen betreiben will. Ebenfalls 2022 freut sich das Emirat Qatar, Ausrichter der Fußball-Weltmeisterschaft zu sein. Das Land, in dem vor allem die Falknerei und Kamelrennen Tradition haben, erhofft sich dadurch einen Imagegewinn.
In naher Zukunft dürften die Nebengeräusche rund um den Sport also noch größer werden. Insofern: Genießen Sie das Fußballspiel am Sonntagabend. Und falls Sie die Werbung aus Qatar nicht ertragen können, schalten Sie am besten direkt mit dem Schlusspfiff ab.