„Noch einmal schnell in die Gesichtschirurgie“
Herr Edler, bei der Tour de France gab es an den ersten Tagen viele Stürze, auch ihr Team war betroffen. Hat das Verbandsmaterial bei Bora-hansgrohe gereicht?
Wir sind im Vergleich zu anderen Teams noch recht glimpflich davon gekommen. Natürlich ist einiges draufgegangen an Verbandsmaterial, aber das planen wir ein. Denn gerade zu Anfang sind bei der Tour die Stürze ja doch häufiger.
Wie häufig stürzen eigentlich Fahrer? Gibt es da eine Statistik aus früheren Jahren, die Ihnen bei der Materialplanung hilft?
Ja, da gibt es Statistiken. Man geht davon aus, dass ein Fahrer bei der Tour de France im Schnitt etwas mehr als zwei Mal stürzt. Das berechnen wir auch mit ein. Generell sind Stürze im Radsport häufig. Verbandsmaterial braucht man immer, und auch immer viel. Bei der Tour machen wir es so, dass wir einiges dabei haben. Man will gut vorbereitet sein, um dann nicht ohne Pflaster dazustehen.
Recherchieren Sie eigentlich vorab, welche Spezialisten es im Zweifelsfalle in den Krankenhäusern nahe der jeweiligen Rennstrecke gibt, um bei Bedarf schnell weitergehende Hilfe zu haben?
Je nachdem, in welcher Region wir sind, müssen wir schon einen Überblick haben, welche Krankenhäuser da sind. Es ist ja von der ASO (den Tour-Organisatoren, d. Red.) glücklicherweise auch vorgegeben, in welche Krankenhäuser die Fahrer gebracht werden, wenn etwas passiert, so dass wir da schnell reagieren können. Wir zehren auch von unserem Netzwerk, dass wir an Spezialisten herankommen, wenn wir sie brauchen. Das hat man bei Verletzung von Emanuel Buchmann beim Giro gesehen, wo wir dann noch einmal schnell in die Gesichtschirurgie mussten. So etwas sollte man schnell organisieren können.
Was sind die häufigsten Verletzungen, gerade in der ersten Tour-Woche?
Wir machen dazu gerade Untersuchungen, haben auch ein wissenschaftliches Paper eingereicht. Es wird häufig von Knochenbrüchen berichtet, das ist auch das, was in den Medien am meisten ankommt. Aber die häufigsten Verletzungen sind Abschürfungen der Haut und große Hämatome in den Weichteilen sowie Stöße gegen die Gelenke in den Beinen und den Armen.
Aber das sind Verletzungen, mit denen die Profis bei der Tour einfach weiterfahren.
Ja. Man muss allerdings schauen, ob die Verletzung gesundheitlich gefährlich für den Fahrer ist…
…wenn also längerfristige Schädigungen zu befürchten sind?
Ja, dann muss man abwägen. In den meisten Fällen sind Hämatome und Abschürfungen aber nicht gefährlich. Und wenn der Fahrer damit weiterfahren kann, macht er es auch.
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Wann sagen Sie: Jetzt muss ein Sportler aus medizinischen Gründen raus, selbst wenn er weitermachen will und die sportlichen Leiter ihn auch gern dabei hätten?
Da muss man im Einzelfall schauen. Das zu pauschalisieren, wäre zu einfach. Man muss gucken: Was ist das für eine Verletzung? Welches Organsystem, welche Knochen, welche Gelenkflächen sind involviert? Dann gibt es eine ganz klare Empfehlung von meiner Seite, und dann wird gemeinsam mit dem Fahrer entschieden, wie man verfährt.
Ein wichtiges Thema sind Gehirnerschütterungen. Kann man überhaupt mitten im Rennen abschätzen, ob ein gestürzter Fahrer da längerfristige Risiken eingeht, wenn er einfach weiterfährt?
Es gibt ja das Protokoll von der UCI (Weltradsportverband, d. Red.) , wie man in solchen Fällen verfahren soll. Meiner Meinung nach ist das so im Rennen aber nicht umzusetzen.
Weil das Peloton schon weg ist, bevor diese Untersuchungen abgeschlossen sind und es deshalb nicht praktikabel ist?
Genau. Das ist das Dilemma, das man im Rennsport hat. Man bräuchte fünf bis zehn Minuten Minimum Zeit. Bis dahin ist das Peloton weg. Es gibt keine Regeln, dass man für diese Zeit das Rennen stoppt oder dass es die Möglichkeit gibt, den Fahrer wieder heranzubringen ans Peloton. Es gäbe sicherlich Möglichkeiten, die Situation für die Fahrer zu verbessern. Es muss aber immer auch durchsetzbar und mit dem Sport vereinbar sein.
Ändern sich im Verlaufe der Tour de France eigentlich die Sturzcharakteristika?
Der Unfallmechanismus bleibt ja immer derselbe. Man fällt vom Rad, mal etwas schneller, mal etwas langsamer. Was in der zweiten und dritten Woche stärker auftritt, sind „Overuseinjuries“, also Abnutzungen und Beschwerden, die über die Dauer kommen.
Worum handelt es sich dabei genau?
Das Knie tut irgendwann weh, vielleicht auch die Hüfte, der untere oder obere Rücken, je nach Haltung auf dem Rad. Wenn man in der ersten Woche aufs Knie fällt, kann einen da, wenn man Pech hat, weiter begleiten. Solche Muster sieht man eher zum Ende hin. Aber der Sturz an sich bleibt immer der gleiche.