Deutschland wird deutscher – und kleinlicher

Drei Jahrzehnte werden die Kunst Werke 2021 alt. Grund genug, das zu feiern, in der ersten Jahreshälfte allerdings wegen erschwerter Corona-Bedingungen noch verhalten. Danach sollte das einfacher sein. Am ersten Juli-Wochenende wird das Jubiläum richtig begangen mit einem Veranstaltungs- und Performanceprogramm sowie der Präsentation einer Publikation zur Geschichte der Institution.

Schließlich war sie der wichtigste Motor für Berlins Erfolg als internationale Kunststadt. Bislang sind nur Botschafter des Jubiläums in den Stadtraum entsendet: seit Jahresbeginn eine Soundinstallation von Susan Philipsz im Hof der ehemaligen Margarinefabrik und in der ersten Mai-Woche eine Plakataktion von Katharina Sieverding im gesamten Stadtraum, im Juli folgt als weitere Auftragsarbeit eine Seifenedition von Sissel Tolaas, gewonnen aus den Geruchsmolekülen der Kunst Werke.

Wer Philipsz’ Gesang lauscht, erlebt einen zauberischen Moment

Das wirkt alles angenehm unaufgeregt, ist es aber zum Glück dann doch nicht. Wer Susan Philipsz’ Gesang – täglich um 12 Uhr aus einem nostalgischen Lautsprecher über der Tordurchfahrt der Kunst Werke – lauscht, erlebt einen zauberischen Moment, so rein und klar klingt ihre Stimme, so beiläufig das intonierte Lied. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2002, als die Schottin ein Gastatelier in den Kunst Werken bezogen hatte, damals beschäftigte sie sich intensiv mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Der Liedtext stammt aus dem Jahr 1919, als Klage, vor allem Kampfansage der Arbeiterbewegung nach dem Mord an den beiden Politiker:innen. So wehmütig und anrührend wie Philipsz ihn auf Englisch singt, mag man kaum die Vor- und Nachgeschichte dieses Liedes glauben. Ursprünglich war es ein Soldatenlied aus dem Ersten Weltkrieg, 1930 wurde es noch einmal für die SA umgedichtet.

Zum ersten Mal wurde die Plakataktion 1993 realisiert

Ambiguität besitzt auch Katharina Sieverdings Plakataktion „Deutschland wird deutscher“, die es 1993 schon einmal in Berlin gab, damals auf 500, heute 90 Werbeflächen im Stadtraum zu sehen. Ursprünglich war sie für die Skulpturenausstellung „Platzverführung“ in 18 Gemeinden der Region Stuttgart entwickelt worden, wo sie auf heftige Ablehnung stieß und bis auf Ausnahmen nicht realisiert werden konnte.

Berlin, genauer: die Kunst-Werke mit Klaus Biesenbach an der Spitze, sprangen ein und übernahmen das Projekt, unterstützt von Kultursenator Roloff-Momin, Neuer Nationalgalerie, Berlinischer Galerie, Neuem Berliner Kunstverein. An diese Auseinandersetzungen erinnert ein als Großformat affichiertes Bild der damaligen Pressekonferenz. das in der Toreinfahrt der Kunst Werke hängt, genau gegenüber einem ein Exemplar von „Deutschland wird deutscher“.

Der Kontext ist neu – zeitlich, politisch, räumlich

Und heute? Gibt es wieder Streit um das Plakat, auf dem unscharf das Konterfei der Künstlerin mit Schleier abgebildet ist, um sie herum auf Holz eingeschlagene Wurfmesser? Davor prangt die einer „Zeit“-Ausgabe entnommene Überschrift für einen Leitartikel. Sind wir knapp 30 Jahr später noch deutscher geworden? Ist das nun gut oder schlecht? Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Ausgrenzung haben seitdem zugenommen, Befindlichkeiten werden aggressiver artikuliert.

Sieverdings aktuelle Wiederauflage schiebt eine weitere Reflexionsebene ein. Dort, wo die Plakate nun in der Stadt zu sehen sind, hat sich rundum häufig alles geändert: Altbauten wurden saniert, Brachen sind verschwunden. Das Improvisierte, Offene der Stadt Anfang der 1990er Jahre gibt es nicht mehr. Vielleicht war dem Unternehmen, das die Werbeflächen anbietet, deshalb die Aktion noch unheimlicher als damals.

[Bis 6. Mai. Auf einer digitalen Karte (www.kunst-werke.de) sind die Aufstellungsorte der Plakate zu finden.]

Diesmal musste ein Logo der Kunst Werke als Veranstalter und ein Verweis auf ihre Website auf das Plakat, um es als Kunst kenntlich machen. „Deutscher“ bedeutet in diesem Zusammenhang kleinlicher.