Das ganze Weihnachtsoratorium in der Philharmonie: Trost, Tanz und seliges Wunder
Vom Rundfunk-Sinfonieorchester wird das Weihnachtsoratorium aufgeführt – ein Satz, der erstmal banal klingt. Entscheidend ist der Artikel, im Programmheften folgerichtig in Versalien gesetzt: DAS Weihnachtsoratorium. Das Ganze. Nicht Kantate 1 bis 3 und 6, nein, alle sechs, drei Stunden lang. Und die Philharmonie ist am Tag vor Heiligabend ausverkauft. Wer sage noch, Bachs Musik sei veraltet, und man könne dem Publikum solche Längen nicht zumuten? Der Thomaskantor macht die Säle voll, längst nicht nur an Weihnachten, und das gefühlt jedes Jahr mehr.
Vielleicht liegt es an dem tiefen Trost, den gerade Barockmusik mit ihrem regelmäßigen, verlässlichen Bau, ihrer klaren Konstruktion bei gleichzeitiger emotionaler Entgrenzung bieten kann, im Fall Bach auch an der Gründung in starker Glaubensgewissheit.
Elaboriertes Gestenrepertoire
Der Heiland ist geboren: „Jauchzet, frohlocket“. Vom ersten Eingangs-Chor an, der zugleich der populärste des Oratoriums ist, lässt Dirigent Vladimir Jurowski keinen Zweifel an seinem Klangideal. Mit elaboriertem Gestenrepertoire verknüpft er Anmut, Pracht und Innerlichkeit, bringt das Festliche, Heitere, auch Tänzerische des Werks zum Vorschein. Modern soll es sein, und prunkvoll. Dafür stehen ihm exzellente Instrumentalsolisten im Orchester und der vorzügliche Chor des Vocalconsorts Berlin (Einstudierung: Ralf Sochaczewsky) zur Verfügung, außerdem vier Gesangssolisten
Sebastian Kohlhepp singt die Evangeliumstexte von Lukas und Matthäus mit geradem, hochgelagertem Tenor voller Klarheit und Reinheit und gerät dabei fast in countertenorale Regionen. Andreas Wolf überzeugt mit lichtem Bass. Julia Grüter springt dankenswerterweise für die verehrte Dorothee Mields ein, ihr Sopran klingt allerdings scharf, auch müsste sie nicht ständig so grimmig gucken. Schön gelingt ihr die Echo-Arie in der vierten Kantate.
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Berührend schlicht
Die Qualitäten von Ulrike Malottas Alt sind nicht gleich an der Oberfläche hörbar, das sie stark in sich hineinsingt – deutlich werden sie aber etwa in der berührend schlichten Arie „Schließe, mein Herz, dies selige Wunder“ im dritten Teil, einer der wenigen Abschnitte, den Bach original für das Weihnachtsoratorium neu komponiert hat.
Viele Arien, Accompagnati und Choräle hat er aus früheren Werken übernommen, allerdings transponiert und mit neuem Text versehen. Dieses so genannte Parodieverfahren wurde später, im Originalgeniekult des romantischen Zeitalters, abschätzig beurteilt. Dabei ist es eigentlich eine eigene Kunstform.
So erklingt in der Philharmonie ein Werk, das die Leipziger vor 300 Jahren eigentlich an sechs verschiedenen Tagen zu hören bekamen, im Block. Das wird natürlich immer wieder gemacht, und auch im modernen Konzertsaal, viele Kirchen können die Menge an Publikum gar nicht fassen. Und doch fehlt etwas: die Mystik eines Kircheninnenraums.
Bitte die Türen schließen
Die Musik tut ihr Äußerstes, doch sie kommt nicht immer an gegen die nüchterne, rationale, weltliche Atmosphäre in der Philharmonie. Und dann lässt in der dritten Kantate auch noch jemand die Tür zum Technikraum offen, 30 Minuten lang muss man den Anblick von Kabelrollen, Stahlschränken und Plastiktonnen aushalten. Eine Petitesse, gewisse, doch auch sie trägt nicht dazu bei, das Gefühl eines Mangels zu beheben.
Trotzdem: Spätestens, wenn der festliche, heiter schreitende D-Dur-Chor „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben“ zur sechsten Kantate anhebt, wenn die Oboe d’amore sich im tief empfundenen Solo verströmt, Vladimir Jurowski blitzschnell zwischen den Affekten und Temperamenten umschaltet und der Schlusschoral „Nun seid ihr wohl gerochen“ verklungen ist, ist klar, dass man einen großen Abend erlebt hat. Und von Bach nie genug bekommt.