„Turn in the Wound“ auf der Berlinale: Überlebende in der Ukraine erzählen und Patti Smith rezitiert Gedichte
„Der Tod lag in der Luft“, sagt die Frau im olivgrünen Overall und meint das nicht metaphorisch, sondern wörtlich. Die Asche, die in der Luft ihrer ukrainischen Heimatstadt schwebte, nachdem diese von der russischen Okkupation befreit worden war, das seien ihre Freunde gewesen, erklärt sie. Wenn Bomben auf Körper treffen, bleibe nichts von ihnen übrig. „Wir konnten sie nicht identifizieren.“
Einschusslöcher in der Kirche
Die Frau steht vor Hochhaus-Ruinen und gibt einem kleinen Filmteam und einer Übersetzerin ein Interview. Manchmal spricht sie auch Englisch. Ihren Namen und den Zeitpunkt des Gesprächs erfahren wir genauso wenig wie den Ort, an dem es stattfindet. So ist es auch bei den anderen Ukrainer*innen, mit denen sich der in Rom lebende US-Regisseur Abel Ferrara für seinen Dokumentarfilm „Turn in the wound“ unterhalten hat.
Aus dem Gesagten lässt sich jedoch erschließen, dass die meisten Straßeninterviews in der Stadt Borodjanka nahe Kiew stattgefunden haben, nicht lange, nachdem sie im April 2022 durch ukrainische Einheiten zurückerobert wurde. Es sind sehr eindrückliche Schilderungen, in den die Menschen sehr detailliert von ihren Begegnungen mit russischen Soldaten und Bomben berichten. Meist bleiben sie dabei erstaunlich gefasst, legen Zeugnis ab von den Grausamkeiten der Russen und der eigenen Angst.
Ein Priester steht vor seiner Kirche voller Einschusslöcher und sagt, dass er Glück hatte, dass die Angreifer eineinhalb Stunden vor dem Gottesdienst auftauchten. Eine ältere Frau, deren Tochter und Schwiegersohn in den Trümmern ihres Wohnhauses starben, erinnert sich genau an das Inferno dieser Nacht – und verliert nur am Ende kurz die Fassung, als sie berichtet, dass ihre Enkel aus der Nachbarschaft vom Tod ihrer Eltern erfuhren, den sie selbst ihnen noch verheimlicht hatte.
Ähnliche Eindrücke hat man schon in vielen TV-Dokumentationen aus der Ukraine gesehen, allerdings in besserer Qualität, denn die Kameraleute von „Turn in the wound“ filmen meist verwackelt und gehen oft ungewöhnlich nah an die Gesichter heran, was wohl einen Eindruck von authentischer Unmittelbarkeit erzeugen soll.
Anders als beim Fernsehen lässt der in den Neunzigern durch Filme wie „Bad Lieutenant“ und „King of New York“ bekannt gewordene Ferrara seine Gesprächspartner allerdings auch mal fünf Minuten am Stück reden – und kehrt grundsätzlich nie zu ihnen zurück. Das gilt auch für Präsident Wolodymyr Selenskyj, der von der Widerstandsfähigkeit seiner Landsleute spricht und einige Male um Übersetzungshilfe der Dolmetscherin bittet.
Auf der zweiten Ebene seines Werks zeigt er Mitschnitte eines Auftritts, den Patti Smith zusammen mit dem Soundwalk Collective im Centre Pompidou in Paris absolvierte. Zu atmosphärischen Klängen rezitiert sie Texte von Antonin Artaud, René Daumal und Arthur Rimbaud, was Ferrara einige Mal mit Frontaufnahmen aus der Ukraine überblendet.
Eine Ästhetisierung, die zunächst befremdlich wirkt, aber auch den Effekt hat, dass sich die Worte der französischen Dichter quasi auf die Seite der kämpfenden Ukrainer zu schlagen scheinen. Etwa wenn von Blut, Rache und Krankheit die Rede ist, oder Smith den Satz „I’m still here“ wiederholt.
Ferrara selbst ist immer wieder zu sehen oder zu hören, etwa wenn er einen Soldaten fragt, wie es war in russische Gefangenschaft zu geraten (Antwort: „Not funny).
Einmal wird er selbst von einer Ukrainerin interviewt, wobei er erzählt, dass seine Ehefrau aus dem Nachbarland Moldawien stammt und er „einfach das Gefühl hatte, hier sein zu müssen“. Mit „Turn in the wound“ verschafft er dem aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit driftenden Krieg zumindest für 77 Festivalminuten wieder mehr Aufmerksamkeit. Das ist aller Ehren wert, selbst wenn einige Patti-Smith-Szenen deplatziert wirken.