Alltagsdramen, Grenzerfahrungen und der lange Schatten der Geschichte: Diese sechs Comics werden jetzt vom Bund gefördert
Der vom Bund finanzierte Deutsche Literaturfonds fördert 2024 zum ersten Mal auch Comiczeichnerinnen und -zeichner mit seinen Werkstipendien. Das Stipendium übertrifft mit der Höhe seiner Förderung alle anderen Stipendienprogramme für die Kunstform und gleicht dem für Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Die Stipendien haben eine Laufzeit von bis zu zwölf Monaten und sind mit monatlich 3000 Euro dotiert. Ende Dezember wurde bekanntgegeben, wer der erste Comic-Jahrgang ist, der die Werkstipendien des Literaturfonds erhält.
Ausgewählt wurden die Arbeiten von einer Vorjury, die eine Empfehlung bezüglich der Förderung an das Kuratorium des Literaturfonds gibt, welches dann entscheidet. Die Vorjury bestand aus der Journalistin Sonja Eismann („Missy Magazine“), dem Kulturwissenschaftler Ole Frahm („Beyond Maus: The Legacy of Holocaust Comics“), Axel Halling (Deutscher Comicverein), Katja Rausch (Internationaler Comic-Salon Erlangen) und dem Autor Timur Vermes („Comicverführer“).
Die ausgezeichneten Werke sind größtenteils dokumentarische Arbeiten, zwei erzählen fiktive, aber in der Realität verankerte Geschichten. Sie alle behandeln gesellschaftlich relevante Themen. Auffallend ist auch, dass vier der sechs Prämierten zu den Autorinnen und Autoren des Berliner Avant-Verlages gehören, der auf Arbeiten mit innovativer Bildsprache und oft politischen Themen spezialisiert ist.
Wir stellen die sechs Empfängerinnen und Empfänger und ihre Projekte vor:
1 Hannah Brinkmann: „Zeit heilt keine Wunden“
Die Berliner Comic-Autorin wurde einem größeren Publikum bekannt durch die 2020 veröffentlichte dokumentarische Graphic Novel „Gegen mein Gewissen“. Darin hat sie die Lebensgeschichte ihres Onkels verarbeitet, der in den 1970er Jahren trotz seiner pazifistischen Überzeugung zur Bundeswehr eingezogen wurde und daran zerbrach.
Brinkmann wird vom Deutschen Literaturfonds für die Arbeit an ihrem neuen Buch „Zeit heilt keine Wunden“ gefördert. Es basiert auf der Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Ernst Grube, der als sogenannter „Mischling ersten Grades“ unter den Nazis verfolgt und kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde.
Nach dem Krieg engagierte er sich als Kommunist in der Bundesrepublik und wurde deswegen mehrfach verhaftet. „Ernst Grubes Schicksal ist eng verwoben mit der deutschen Nachkriegsjustiz, die sich klar gegen den Kommunismus positionierte“, schreibt Brinkmann.
Grubes Lebensgeschichte verknüpft Brinkmann mit der Biografie des über ihn urteilenden Bundesrichters Kurt Weber, dessen Aufstieg im Nationalsozialismus begann. „Beide Biografien werfen Fragen über die politische Integrität des Einzelnen auf“, schreibt Brinkmann. Stilistisch verbindet sie realistische Bleistift- und Buntstiftzeichnungen mit Linolschnitt.
2 Lisa Frühbeis: „Unsichtbar“
Die Augsburger Comicautorin ist vor allem durch ihre unter dem Titel „Busengewunder“ gesammelten feministischen Comic-Strips bekannt geworden, die ursprünglich im Tagesspiegel erschienen und 2020 beim Internationalen Comic-Salon in Erlangen als „Bester deutschsprachiger Comic-Strip“ ausgezeichnet wurden. Zuletzt ist von ihr das Buch „Der Zeitraum“ über die Herausforderungen im Leben einer alleinerziehenden Komponistin erschienen.
Ihr vom Literaturfonds gefördertes Projekt mit dem Arbeitstitel „Unsichtbar“ entstand indirekt aus einem Comicjournalismus-Workshop, an dem sie 2019 teilgenommen hatte. Zusammen mit dem Investigativ-Journalisten Jonas Seufert erarbeitet sie mehrere kürzere dokumentarische Comics über den Alltag von Menschen, die sich ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland befinden.
„Es geht um Papierlose in Deutschland, die anonym bleiben müssen und deswegen im gezeichneten Medium Comic besonders gut ihre Geschichte erzählen können“, erklärt Frühbeis. „Ziel sind vier bis fünf Geschichten über ihren Alltag und ihre Herausforderungen.“ Geplant ist, diese dann in Zeitungen und gesammelt als Buch zu veröffentlichen.
Für ihre Bildfolgen, in denen sich jeweils eine kurze Aussage der Hauptfigur mit einem Bild abwechselt, kombiniert Frühbeis semirealistische, auf das Wesentliche reduzierte Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit surrealistisch wirkenden Bildmetaphern.
3 Marlene Krause: „Niemand ist frei“
Die Berliner Comicautorin wird vom Literaturfonds für ein Projekt gefördert, für das sie bereits im Vorjahr Unterstützung durch das Berliner Comicstipendium bekam und das sie 2024 zum Abschluss bringen will.
„Es ist eine Art grafischer Briefroman über das Konzept von Freiheit beziehungsweise deren Abwesenheit in konzentrischen Kreisen“, fasst die Zeichnerin, die unter anderem an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg und der Universität der Künste in Berlin studiert und lange in Barcelona gelebt hat, das Projekt zusammen.
Hauptfigur ihrer Erzählung mit cartoonhaft stilisierten Figuren ist die militante Umweltaktivistin Dúda, die eine Gefängnisstrafe antritt und über Briefe mit ihrem Bruder, der als Bauarbeiter in einer Millionenmetropole lebt, in Kontakt bleibt. Ebenso mit einem alten Freund, der ein politischer Theoretiker und Anthropologe ist und in einer entlegenen indigenen Gemeinschaft in Südamerika zu Themen wie Strafe und Sanktionierung forscht.
4 Constantin Satüpo: „Gratweg“
Der Berliner Comicautor, der seine künstlerische Ausbildung in Moskau und Berlin absolviert hat, wird vom Literaturfonds für ein Buchprojekt gefördert, das in Paris spielt. Hier verbrachte Satüpo, der mit bürgerlichem Namen Konstantin Potapov heißt, schon 2019 einige Monate mit Unterstützung des Berliner Comicstipendiums.
Das dabei entstandene Buch „Am Hügel“ soll in Kürze beim Avant-Verlag erscheinen. Auf der Grundlage eigener Recherchen erzählt es vom Alltag in der von Obdachlosen und Drogensüchtigen bewohnten Zeltstadt „Crack Hill“.
Sein nächstes Buch „Gratweg“, für dessen Erarbeitung er das Literaturfonds-Stipendium erhielt, basiert ebenfalls auf Begegnungen in Paris. Im Stil eines Abenteuerromans erzählt er darin die Geschichte dreier junger Afghanen, die sich 2016 von Zagreb nach Frankreich durchschlagen. Die Hauptfigur Hassan B. hat Satüpo während seiner Künstlerresidenz in Paris kennengelernt, wie er berichtet. Das Buch ist größtenteils aus Hassans Sicht geschrieben und verwebt seine aktuellen Erlebnisse mit Erinnerungen an seine Odyssee durch Europa. „Die spiegelbildliche Struktur von Gegenwart und Vergangenheit wird die Absurdität des Hin- und Her-Spiels der Migrationspolitik widerspiegeln“, so Satüpo über sein Buch.
Das mit Wasserfarben, Gouache und Buntstiften ausgeführte Werk schaffte es kürzlich auch unter die Finalisten beim Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung.
5 Mikael Ross: „Der verkehrte Himmel“
Der Berliner Comicautor hat sich unter anderem mit der Beethoven-Biografie „Goldjunge“ und dem Buch „Der Umfall“ über den Alltag eines jungen Mannes mit geistiger Behinderung einen Namen gemacht. Letzteres wurde 2020 mit einem Max-und-Moritz-Preis als Bester deutschsprachiger Comic ausgezeichnet.
Sein jetzt vom Literaturfonds gefördertes Projekt „Der verkehrte Himmel“ ist ein Krimi, der unter anderem in der vietnamesischen Community in Berlin-Lichtenberg spielt und im Mai beim Avant-Verlag erscheinen soll. Das Buch erzählt von den Geschwistern Tâm und Dennis, die in der Hitze des Berliner Sommers in einem Gebüsch am Rande ihrer Plattenbau-Siedlung einen abgetrennten Finger entdecken.
„Im Laufe ihrer Nachforschungen kommt es zu einer verstörenden Begegnung mit einem geheimnisvollen Mädchen“, heißt es in der Zusammenfassung der Story auf der Verlagsseite. Das Mädchen ist die zwei Jahre ältere Hoa Binh und sie ist auf der Flucht. Vor wem und warum, wird im Lauf der Erzählung enthüllt. Zeichnerisch nimmt Ross mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern Bezug auf die Ästhetik des Film Noir und japanischer Mangas.
6 Birgit Weyhe: „Schweigen“
Die Hamburger Comicautorin hat sich mit dokumentarischen Comics wie „Rude Girl“ und „Madgermanes“ einen Namen gemacht. Sie hat einige Jahre auch für den Tagesspiegel gearbeitet, ihre gesammelten Comics für die Zeitung wurden im Buch „Lebenslinien“ veröffentlicht. 2022 wurde Weyhe, die in ihren Arbeiten oft semirealistische, mit klaren Linien gezeichnete Bilder mit grafischen Symbolen kombiniert, mit dem Max-und-Moritz-Preis als beste deutsche Comic-Künstlerin ausgezeichnet.
Weyhes vom Deutschen Literaturfonds gefördertes Werk trägt den Arbeitstitel „Schweigen“ und beschreibt anhand der Lebensgeschichten von Ellen Marx und Elisabeth Käsemann die Auswirkungen der argentinischen Militärdiktatur und deren Aufarbeitung in Argentinien und Deutschland, wie die Künstlerin erklärt.
„Ellen Marx ist selbst als 17-jährige aus Nazi-Deutschland geflohen und hat nach dem Verschwinden ihrer Tochter Nora während der argentinischen Militärdiktatur unermüdlich für die Aufklärung der Verbrechen gekämpft.“ Elisabeth Käsemann war eines der Opfer der Junta. „Anhand der beiden Biografien lassen sich die politischen Verstrickungen von Deutschland und Argentinien gut zeigen“, sagt Weyhe – „und auch, wie wichtig das Erinnern und die Aufarbeitung des Geschehenen ist.“