Gayle Tufts in der Bar jeder Vernunft: Sternenaugen in der Frostnacht
Es ist ein Wiedersehen mit einer „alten“ Bekannten. Sie thematisiert es ja selbst, gleich zu Beginn ihrer neuen Show „Please don’t Stop the Music“ in der Bar Jeder Vernunft: Im siebten Jahrzehnt sei sie jetzt, und da fängt man schon an zu zählen, Kalorien, Schritte, Kerzen („es werden immer mehr!“) – „soon we have 2024, how did that happen?“
Auf die eigene Biografie zurückzublicken, auf die Karriere, und das Erlebte für die Bühne produktiv zu nutzen, das tun viele Künstler. Doch wohl niemand so charmant, so sternenaugenhaft, kindlich und dabei doch ironisch wie Gayle Tufts – abgesehen davon natürlich, dass die amerikanische und (seit 2017) auch deutsche Sängerin, mit jeder Faser ihres Körpers, in jedem Augenblick so wirkt, als sei sie im fünften Jahrzehnt, höchstens.
So lädt sie denn in dieser frostigen Premierennacht im Zelt auf dem Wilmersdorfer Parkplatz zu einer musikalischen Tour de Force durch ihr Leben und die Popgeschichte, mit gecoverten Klassikern und eigenen Songs. Komponiert hat sie ihr 22 Jahre jüngerer und doch bereits langjähriger Herzensbegleiter Marian Lux am Klavier, Gewinner des Deutschen Musical-Theaterpreises 2023.
Sieben prägende Stationen
Grob geht es um sieben prägende Szenen aus Tufts Leben, etwa das wöchentliche Ritual der Ed Sullivan Show. Oder der Tag, als Mutter und Schwester sie aus dem heimischen Brockton, Massachusetts nach Manhattan chauffierten, an der Grand Central Station abluden und davondüsten – ein Trauma, das sie verarbeitet im Song „Ausgesetzt“. Dazu kommen legendäre Titel von den Supremes („Stop! In the Name of Love“) und Alicia Bridges („I love the Nightlife”), alles mit dieser fülligen Musicalstimme und dem berühmten Dinglish interpretiert, bei dem man nie weiß, ob es nicht inzwischen pure Koketterie ist und sie eigentlich perfekt Deutsch spricht. Jedenfalls kann kaum jemand so zuckerhaft „Sekünde“ aussprechen wie Gayle Tufts.
Viele Stars durfte sie während ihrer Jahre in New York live erleben, nicht zuletzt die junge Madonna – genau die, die eben erst in Berlin war und die bekanntlich über sich selbst sagt: „Das Provokanteste, was ich je gemacht habe, ist noch da zu sein“. Und es stimmt ja, Michael Jackson, Prince, George Michael sind tot. „All Hail the Queen“, ruft Tufts, und dem ist kaum etwas hinzufügen. Marian Lux („Wer könnte ein Frau nach der Menopause besser verstehen als ein schwuler Pianist aus dem Osten?“) ist ihr bei all dem viel mehr als nur Begleiter, er tanzt, reagiert schnell auf Witze, ist insgesamt enorm präsent.
In den 80er Jahren besuchte Tufts erstmals Berlin, seit 1991 lebt sie hier, und wie sie zu „Don’t go“ von Yazoo das Spiegelzelt in einen stroboskopgefluteten Kellerclub aus jener Ära verwandelt, ist ziemlich spektakulär. Dazu bricht sich das Licht an einem Dutzend Discokugeln an der Decke, Leihgaben der Komischen Oper und des Friedrichstadtpalasts und schön symbolhaft, spielt an diesem Abend doch Reflexion im Wortsinn eine Hauptrolle.
Politik fließt dann spätestens mit Tufts Auftritt als Berliner Mauer (sic!) ins Geschehen ein – „Was waren das für Jahre, als wir dachten, es wird alles anders, besser und der Potsdamer Platz richtig schön!“. Doch 1989 ist Geschichte, die Uhr dreht sich zurück, Diktatoren, Autokraten und Illiberale sind überall auf dem Vormarsch. Das „orangene Monster“, das seit Jahren die Demokratie von Tufts Heimatland einem nie gekannten Stresstest unterzieht, erwähnt sie nur kurz, dafür Floridas Gouverneur Ron deSantis, der Bücher über queere Menschen mit dem Vorwurf, sie würden Kinder „indoktrinieren“, aus den Schulen entfernen lässt: „We are not fucked. Was in den USA geschieht, ist nichts weniger als ein Clusterfuck!“.
Gelegentliche Aussetzer bügelt Tufts souverän aus, indem sie eine der wichtigsten Bühnenregeln anwendet: Den Fehler sofort thematisieren und in die Show miteinbeziehen, als würde er dazugehören. Viele der Songs dürfte das reifere Premierenpublikum noch aus eigenem Erleben kennen, obwohl auch jüngere Fans im Saal sitzen. Das Finale gehört Rihannas titelgebendem „Please Don’t Stop the Music“. Nein, Gayle, please don’t stop.