Frischer Wind: Anne Teresa de Keersmaeker und Kat Válastur beim Tanz im August 

Zu Beginn von „EXIT ABOVE after the tempest“ kommt die Windmaschine zum Einsatz. Im Haus der Berliner Festspiele schwebt eine Plastikplane durch die Luft, verwirbelt sich, bauscht sich auf zur Wolke, die über den Köpfen der Tänzer:innen hängt. Einen Sturm entfesselt die flämische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker nicht in diesem Prolog. Auch ein Bezug zu Shakespeares letztem Stück „The Tempest“ lässt sich auch nicht erkennen. Meskerem Mees, eine Singer-Songwriterin mit äthiopischen Wurzeln. zitiert dann Walter Benjamins Denkbild vom Engel der Geschichte, den ein Sturm unaufhaltsam in die Zukunft treibt. Fast wie ein Engel mutet der Tänzer Solal Mariotte an, er wirbelt herum, beginnt zu zittern und sinkt schließlich kraftlos zu Boden.

De Keersmaeker hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der Musik von Bach beschäftigt. Dass sie sich nun dem Blues zuwendet, ist überraschend. Meskerem Mees hat gemeinsam mit dem Produzenten Jean-Marie Aerts und dem Gitarristen und Tänzer Carlos Garbin Interpretationen von „Walking Songs“ erarbeitet. Ausgangspunkt war „My Walking Blues“ in der Version des legendären Musikers Robert Johnson. Die wunderbare Mees mischt sich unter die Gruppe der Tänzer:innen und trägt mit heller, klarer Stimme ihre Lieder vor, die eine unendliche Traurigkeit verströmen. Sie hat den Blues, das ist unverkennbar – und zieht mit ihrer starken Präsenz in den Bann.

Musikalisch beglückend, choreografisch nicht überzeugend

Musikalisch ist dieser Abend durchaus beglückend, doch choreografisch überzeugt er nicht. De Keersmaeker folgt hier ihrem Credo: „My walking is my dancing.“ Das 13-köpfige Ensemble läuft nach vorn zur Rampe und wieder zurück zur schwarzen Wand. Die Perfomer:innen erstarren kurz, werfen sich in Pose oder starren herausfordernd ins Publikum. Die wiederholten Schrittmuster wirken aber eher monoton. Aufgelockert wird das kollektive Schreiten und Laufen durch kurze Duos und Trios. Die Bewegungen sind mal zackig, mal kurvig-kreiselnd, doch sie passen nicht zu den Songs und dem Gesangsstil von Mees.

Die Choreografin hat das Stück mit sehr jungen Tänzer:innen ihrer Compagnie Rosas erarbeitet. Immer wieder sieht man Anleihen beim Urban Dance, vor allem bei Solal Mariotte, der mit fulminanten Spins begeistert. Doch De Keersmaekers choreografische Handschrift ist kaum zu erkennnen. Die Bluesklänge werden dann von elektronischer Tanzmusik abgelöst. Die Meute reißt sich die Klamotten vom Leib, stürzt sich in den Exzess mit anschließendem Katzenjammer und Kotzen. Auch wenn der Abend geschichtspessimistisch begann: Ins Auge des Sturms haben die Performer:innen nicht geblickt.

„Strong-Born“ von Kat Válastur.
„Strong-Born“ von Kat Válastur.
© Vito Walter

Einen ersten Höhepunkt bescherte dem Festival ausgerechnet eine Berliner Choreografin. Kat Válastur zeigte mit „Strong-Born“ eine Art feministisches Ritual. Wenn die drei Tänzerinnen in Trainingsanzug sich auf der Bühne des HAU1 warmmachen, wird daraus schon ein Tanz. Wenn Válastur die Bewegungen entschleunigt, scheinen die drei in eine mythische Sphäre entrückt.

Kat Válastur hat sich vom Iphigenie-Mythos zu ihrem Stück inspirieren lassen, doch sie will keine Opfergeschichte erzählen, sie feiert stattdessen die weibliche Solidarität. Ihre Choregrafie ist ein fesselndes Zusammenspiel aus Bewegung, Klang und Rhythmus. Die fabelhaften Perfomer:innen tragen Klangelemente aus Porzellan an den Handgelenken und am Oberarm, über dem Knie und unter dem Bauchnabel. Sie erzeugen klackende Sounds mit schlagenden Bewegungen, die weich abgefedert werden. Mal klopfen sie sich mit dem Handgelenk auf Arm oder Schenkel, mal entdecken sie den Körper der anderen als Klangquelle. Wenn kurz vor Schluss die Percussionistin Valentina Magaletti auftritt, erhöht sich nochmal die Spannung. „Strong-Born“ ist geradezu ein Training in Empowerment – und zugleich eine sehr präzise gearbeitete Choreografie.