Autobiografischer Comic „Coming of H“: Erwachsenwerden in der Kleinstadt-Tristesse
Skaten, Graffitis, Hip-Hop, kiffen, erster Sex: Mit seinen Freunden lässt sich der Held Hamed durch den Alltag in der westfälischen Provinz treiben. Davon erzählt der Comic „Coming of H“, in dem der in Teheran geborene Hamed Eshrat seine Jugend in der Kleinstadt Bünde in den 1990er-Jahren mehr oder weniger autobiografisch verarbeitet.
Auf dem Cover sehen wir Hameds Freunde: Lässige Jungen und Mädchen mit Skateboards, die uns cool fixieren. Auf den ersten Blick ist Eshrats unangestrengt erzählte Coming-of-Age-Geschichte scheinbar leichterer Stoff als seine anderen Comics: das Debüt „Tipping Point – Teheran 1979“ über die eigene Fluchtgeschichte, die autofiktionale Berliner Milieustudie „Venustransit“ (avant, 2015) und der historische Comic „Nieder mit Hitler!“ (avant, 2018).
Dennoch ist der neue Comic mehr als eine lockere Adoleszenz-Story. Denn nach Alkohol, Zigaretten und Cannabis steigt Hameds bester Freund Sven auf Heroin um – das „H“ im Titel spielt darauf an. Auch für Hamed sind anfangs Drogen eine hilflose Strategie gegen Langeweile und Angst vor der Zukunft.
Als Vorbilder für den Sinnsucher taugen weder die Erwachsenen noch das Luxusleben von Hameds Schwarm Nina – einer Arzttochter aus großbürgerlichem Haus. Hamed findet die nötige Stärke schließlich in sich selbst: lehnt Heroin ab, findet im Kunst-LK zur Kreativität und jobbt in einer Werbeagentur.
Für zusätzliche Ebenen mit Tiefgang sorgen Einblicke in die tragische Familiengeschichte: Seit Hameds Eltern vor den Repressalien des islamischen Gottesstaats nach Deutschland flohen, leidet der Vater an Depressionen. In kurzen, an stimmigen Stellen eingewobenen Episoden erzählt Eshrat von den zunehmenden Problemen seines Vaters, sich anzupassen und zu integrieren – und schließlich von seinem Scheitern.
Dazu entfalten auch die drastischen Schilderungen von Verfolgungsjagden und Schlägereien zwischen rivalisierenden Jugendgruppen eine starke Wirkung und zeigen, was es heißt, nicht dazuzugehören.
Der Kleinstadtenge entfliehen, sich von zuhause abnabeln – für Hamed heißt das am Ende, zum Design-Studium nach Berlin aufzubrechen: In drei aus dem Panel-Rahmen befreiten Zeichnungen vermischen sich Wunsch und Wirklichkeit, verabschiedet sich Hamed sehr persönlich und liebevoll von seinem inzwischen an Herzinfarkt gestorbenen und herbei imaginierten Vater und versöhnt sich mit ihm.
In emotionalen und traurigen Passagen, aber auch passend zu dynamischen Sequenzen variieren Farben und Layout: Mal gibt es klassische, gerahmte Panel-Raster mit ausgearbeiteten Dialogen und unterschiedlichem Lettering; mal nur ein herausgelöstes Bild auf einer Seite mit viel Weißraum.
Eshrat wählt die Vogelperspektive für bessere Orientierung, Überblick oder mehr Distanz zum Geschehen. Oder er zoomt Details heran und zieht uns damit in eine Situation hinein. Stilistisch hat sich der Zeichner seit seinem Debüt sichtbar weiterentwickelt und zu einer selbstbewussten, expressiv-kraftvollen Bildsprache gefunden – mit eigenem Sound und Rhythmus.
Zur Startseite