Folge 165 „Wochniks Wochenende“: Interferenzen und Artefakte
Betrachtet man das sich drehende Rad eines vorüberfahrenden Fahrrads, kann es wirken, als drehte es sich rückwärts oder stünden die Speichen still. Filmt man einen Röhrenbildschirm mit dem Handy, sieht man Streifen übers Bild wandern und erkennt ein Flimmern. Schlägt man an einer Gitarre denselben Ton auf zwei benachbarten, leicht gegeneinander verstimmten Saiten an, hört man die akustische Variante dessen: Ihr Zusammenklang pulsiert. Beim Stimmen macht man sich diesen Effekt zu eigen: Je näher die zwei Töne zusammenrücken, desto langsamer wird der Puls, bis er endet, wenn die Seiten gleich gestimmt sind.
Das physikalische Phänomen in all diesen Szenarien ist die Interferenz: Wellen überlagern sich so, dass Verstärkungen und Auslöschungen auftreten. Sie können in der Zeit erfahrbar werden, im Klang oder im statischen Bild. Besonders gut sind Interferenzen auf der Wasseroberfläche sichtbar, auf der das Wechselspiel der Wellen komplexe Muster ergibt.
Sicherlich kein Zufall ist daher, dass Harriet Groß nach ihrer Ausstellung zum Wasserthema 2022 in der Guardini Galerie, „Weißer Regen“, nun bei Axel Obiger eine beeindruckende Schau zum Thema Interferenz zeigt. Visuell ist das Phänomen besonders eindrücklich, wenn Bewegung ins Spiel kommt. Bei Groß ist das meistens die Bewegung der Betrachtenden: Im Vorübergehen an sich überlagernden Texturen, beginnen die Oberflächen zu flimmern und entstehen flüchtige Muster, die schon bei der feinsten Perspektivänderung zu anderen werden. Der Blick macht hier die Welt.
Thomas Wochnik schreibt über Kunst, Musik und die freie Szene. Jeden Sonnabend erscheint seine Kolumne „Wochniks Wochenende“ mit ausgewählten Berlinhighlights.
Aber nicht nur in der sinnlichen Wahrnehmung ist das Phänomen bekannt. In der Sprachwissenschaft etwa gibt es Interferenz, wenn Wörter oder Formulierungen aus einer erlernten Sprache sich in eine andere einschleichen. In der Psychologie gibt es Interferenz zwischen zwei Erinnerungen oder zwischen einer Erinnerung und dem aktuellen Erleben. Man könnte versucht sein, das eigene Ich, eine ganze Kultur oder sogar das Wochenende als hochkomplexes System voller miteinander interferierender Stimmen, Bilder und Erinnerungen zu denken, in dem alles, das einem erscheint, eigentlich nur ein perspektivabhängiges flüchtiges Muster ist, sprich: eine arge Reduktion. Muss man aber gar nicht.
Wenn die Vorstellung Unbehagen auslöst, lasse man die Interferenzen von Harriet Groß mit den Artefakten von Susanne Piotter wechselwirken. Piotters Artefakte, die selbst aus vielerlei Interferenzen hervorgegangen sein dürften, teilen sich mit Groß’ Interferenzen bei Axel Obinger den Ausstellungsraum – und schaffen zusammen ein Drittes, eine Emergenz, aber das führt vielleicht zu weit. So oder so ist die Schau beeindruckend. Und wird es bald gewesen sein, denn Sonntag ist der letzte Ausstellungstag. Um 16 Uhr beginnt die Finissage mit Konzert. Julia Yoo Soon Gröting, Violine, und Luise Rau, Cello, interferieren miteinander musikalisch bei Werken von Kaija Saariaho, Henrik Ajax, Hanns Eisler, Philip Glass and B.A. Zimmermann. Eintritt frei.