Letzter Tag in Cannes : Ken Loach kämpft weiter für Gerechtigkeit

Den letzten Tag an der Croisette verbringt der Filmkritiker gewöhnlich im Zustand fortschreitender Erschöpfung. Außenstehenden ist das vermutlich schwer zu erklären, aber zwölf Tage Kino am Stück gehen durchaus an die Substanz. Am Ende bleibt manchmal kaum noch Raum für andere Gefühle als das der Übersättigung – und der Sehnsucht nach etwas Normalität. Die Cannes-Blase hält einen fest umschlossen, auch die kurzen Wege über die Croisette, vorbei an Luxushotels und Boutiquen, helfen nicht gerade beim Realitätscheck. Ein Filmfestival wie Cannes lebt natürlich davon, eine Simulation von Realität zu erschaffen, den Verlockungen des Kinos folgt man nur zu gerne in die dunkeln Säle.

In diesen vergangenen Tagen aber liegt ein goldener Glanz über dem Festival, was nicht nur mit der Sonne zu tun hat, die in der zweiten Woche die Versäumnisse der ersten Tage mehr als kompensiert. Es ist auch eine Generation von (fast ausschließlich männlichen) Filmemachern – die Rückkehr der Französin Catherine Breillat nach einem Schlaganfall gehört aber unbedingt auch dazu –, die sich im Herbst ihrer Karrieren noch einmal sonnt: Martin Scorsese, Wim Wenders, Marco Bellocchio und nicht zu vergessen der wieder putzmuntere Aki Kaurismäki. Der Finne hatte zu Beginn der Woche mit „Fallen Leaves“ im Wettbewerb das Fenster zur Realität schon mal weit aufgestoßen. Das Radio spült kontinuierlich Nachrichten vom Ukraine-Krieg in seinem tragikomischen Liebesfilm

Kino, das die Welt beschreibt

Aber nicht einmal Kaurismäki kann einen auf „The Old Oak“ von Ken Loach vorbereiten, der am Freitagabend den Wettbewerb beschließt. Es wurde in den vergangenen Tagen viel über den Zustand der Filmkunst gesprochen, die in diesem Jahr seit Langem wieder mal dem eigenen Anspruch des Cannes Festivals entspricht.

Wie kann die Filmkritik hier also einem Film gerecht werden, der weder ästhetisch ambitioniert ist noch erzählerisch Neuland betritt. Sondern der mit einfachsten Mitteln so vehement und empathisch etwas über den Zustand der Welt erzählt, dass es im Kinosaal anschließend für einen Moment ganz still wird?

Ken Loach bei der Ankunft am roten Teppich.
Ken Loach bei der Ankunft am roten Teppich.
© REUTERS/Gonzalo Fuentes

Ken Loach hat seine gesamte Karriere dem Kampf für soziale Gerechtigkeit gewidmet, ob als Sprachrohr für die britische Arbeiterklasse, in Filmen über die sandinistische Revolution und den irischen Brüderkrieg. Mit „The Old Oak“ holt er die Welt nun in den kalten Norden Englands, wo in der ehemaligen Bergarbeiterstadt Durham 2016 die Ankunft von syrischen Geflüchteten schnell zu sozialen Spannungen führt.

Der titelgebende Pub fungiert für die Abgehängten als letzter Ort, der in einer sich schnell wandelnden Welt noch für Kontinuität steht. Der Besitzer TJ (Dave Turner) bietet den traumatisierten Menschen seine Räumlichkeiten als Refugium an, in denen Geflüchtete und Einheimische zusammenkommen. Aber sein Versuch eines Dialogs bringt selbst alte Freunde gegen ihn auf, die „alte Eiche“ wird Ziel von Sabotageakten.

Die alte Eiche Ken Loach

Die Fotokamera der jungen Syrerin Yara (Ebla Mari), deren Familie auf ein Lebenszeichen des Vaters aus der Heimat wartet, ersetzt in „The Old Oak“ Worte, die angesichts der Tragik ohnehin unangemessen klingen. Und Yaras Mutter kocht TJ nach dem Tod seines Hundes ein syrisches Gericht. Das Essen verbindet im Schmerz, wie schon in den 1950ern die gemeinsamen Mahlzeiten beim Minenarbeiterstreik. Die Wörter Solidarität und Widerstand sticken Syrer und Engländer auch auf das Banner, das schließlich im Old Oak hängt.

Sie beschreiben im Grunde auch das gesamte Werk von Loach, der seine Filme in den meisten Fällen mit hemdsärmeligem Pragmatismus gemacht hat. Aber zwischen all der Filmkunst in diesem Jahr wird einem plötzlich wieder bewusst, was Kino eben auch sein kann. Ken Loach hatte bereits drei Mal seinen Ruhestand angekündigt. Nach „The Old Oak“ ist schwer vorstellbar, dass der 86-Jährige schon ans Aufhören denkt.

Bukolische Sinneseindrücke. Szene aus „La Chimera“ von Alice Rohrwacher.
Bukolische Sinneseindrücke. Szene aus „La Chimera“ von Alice Rohrwacher.
© Festival de Cannes

Den Filmen von Alice Rohrwacher nach zu urteilen, ist auch die italienische Regisseurin schon eine alte Seele. Ihr vierter Spielfilm „La Chimera“ beschließt ihre italienische Trilogie mit einer weiteren Reise in die Vergangenheit, deren Fährten bis in die Gegenwart führen. Rohrwacher und ihre Kamerafrau Hélène Louvart arbeiten mit 35mm- und Super 16-Material, das den Bildern eine weiche Textur verleiht, mit ausgefransten Rändern.

Ein britischer „Grabräuber“ namens Arthur (Josh O’Connor, bekannt als Prinz Charles aus „The Crown“) ist gerade aus dem Gefängnis zurückgekehrt und kommt in der Landvilla der grandios schlecht gelaunten Miss Havisham (Isabella Rossellini) unter. Er sucht Trost nach dem Verlust seiner geliebten Beniamina – und eine Geheimtür, die in das im Untergrund verschollene Reich der Etrusker und ihre mit Schätzen gefüllten Grabkammern führen soll.

Nur wenige Filmemacherinnen verstehen es wie Rohrwacher, die Anmutung einer vergangenen Zeit mit der Gegenwart verschmelzen zu lassen. „La Chimera“ ist eine sinnliche Erfahrung, Louvarts Bilder ähneln Gemälden, bukolisch und sich gleichzeitig schon im Zustand der Auflösung befindend. Auch die Figuren Rohrwachers scheinen durch die Zeit zu geistern, in der Vergangenheit suchen sie einen Halt im Jetzt. „Gehört sie uns allen oder niemandem?“, fragt am Ende des Films Italiana (Carol Duarte), die Arthur wieder auf den rechten Weg bringen will, nach dem Besitzanspruch an unsere eigene Geschichte. „La Chimera“ gibt darauf keine Antwort, aber seine Bilder kommen der Wahrheit wieder ein kleines Stück näher.