Das Programm von Cannes: Der doppelte Wim Wenders
Man hat sich zuletzt ja an den Mangel deutscher Namen an der Croisette gewöhnt. Zumindest einer wird uns in den kommenden Jahren aber regelmäßig begegnen, nachdem die Managerin (ein so unschönes Wort, wenn es doch um die Kunst geht) Iris Knobloch die Präsidentschaft des Filmfestivals Cannes übernommen hat. Als erste Frau und, was ihr in der stolzen Grand Nation heftigen Gegenwind bescherte, erste Person ohne französischen Pass. Mit Knobloch, die lange die europäischen Geschäfte von Warner Bros. führte und am Musik-Streamingportal Deezer beteiligt ist, geht die Hoffnung auf eine Modernisierung des Festivals einher, das sich ein wenig zu gemütlich in der Arthouse-Trutzburg eingerichtet hat. (Stichwort Netflix)
Deutsches Kino in Cannes
Ihre erste offizielle Amtshandlung ist am Donnerstag an der Seite des Künstlerischen Leiters Thierry Frémaux die Programm-Verkündung des 76. Cannes-Festivals, das am 16. Mai mit dem Johnny-Depp-Vehikel „Jeanne du Barry“ der französischen Regisseurin Maïwenn eröffnet. Und man wünscht sich fast, dass Knobloch mit der Modernisierung gleich mal bei der Pressekonferenz angesetzt hätte, die immerhin live im französischen Fernsehen übertragen wird und bei der Frémaux sich fahrig durch seine Notizen wühlt. Ein visuelles Leitsystem, gerade bei den vielen (noch) unbekannten Namen in der Reihe Un Certain Regard, hätte Cannes, das sich so für die Zukunft des Kinos stark macht, gut zu Gesicht gestanden
Bei den bislang 19 Filmen im Wettbewerb – Frémaux kündigt Nachnominierungen für die Konkurrenz um die Goldene Palme an – stellt sich dieses Problem nicht. Der ist wieder gespickt mit den Großen des Weltkinos (und früheren Palmen-Gewinnern): Wes Anderson, Aki Kaurismäki, Catherine Breillat, Ken Loach, Alice Rohrwacher, Kore-eda Hirokazu, Marco Bellocchio, Todd Haynes, Nanni Moretti.
Sowie, womit das deutsche Kino in diesem Jahr auch mal wieder im Wettbewerb vertreten wäre, Wim Wenders mit dem in Japan gedrehten „Perfect Days“. Wenders bringt, wie sein chinesischer Kollege Wang Bing, noch einen zweiten Film mit an der Croisette: „Das Rauschen der Zeit“ über Anselm Kiefer; sein zweiter 3D-Dokumentarfilm nach „Pina“. Sandra Hüller steht ebenfalls in zwei Wettbewerbsfilmen vor der Kamera.
Sechs Regisseurinnen, Rekord
Und wo nun erstmals in der Geschichte des Festivals die Spitze paritätisch besetzt ist, stellt Frémaux mit sechs Regisseurinnen im Wettbewerb noch einen weiteren Rekord auf. Für Breillat, die krankheitsbedingt lange pausieren musste, Jessica Hausner, Justine Triet und Alice Rohrwacher bedeutet die Berufung eine Rückkehr, die senegalesische Regisseurin Ramata-Toulaye Sy und Kaouther Ben Hania aus Tunesien debütieren im Wettbewerb.
Ebenfalls auf einen neuen Rekord anzulegen scheint es, was die Zahl von Hollywoodstars angeht, Wes Anderson mit seinem Ensemblefilm „Asteroid City“ über eine Sternengucker-Konferenz im Jahr 1955. Neu hinzugestoßen zum Anderson-Universum sind unter anderem Scarlett Johansson, Tom Hanks, Margot Robbie, Steve Carell und Hong Chau. Auf dem roten Teppich dürfte es eng werden, allein mit der Stardichte von „Asteroid City“ könnte man ein ganzes Festival versorgen.
Für den Spektakelfaktor sorgen dieses Jahr (außer Konkurrenz) Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“, den Apple fast ein halbes Jahr vor dem Kinostart in Cannes zeigt, und „Indiana Jones and the Dial of Destiny“. Möchte man daraus eine neue Politik von Thierry Frémaux ableiten, dann die, dass Hollywood in Cannes, wie schon im Vorjahr mit „Top Gun“ und „Elvis“, nur noch für den Glamour gebraucht wird, während der Autorenfilmer Todd Haynes im Wettbewerb läuft. Und Netflix weiter außen vor bleibt. Ob man so aber 2023 ein Filmfestival modernisiert?