Auf Lincolns Spuren

Bethlehem wird gerahmt von zwei Friedhöfen. Einem, auf dem sterbliche Überreste in der Erde ruhen, und einem, aus dem gewerbliche Überreste in die Höhe ragen. Das Stahlwerk von Bethlehem, Pennsylvania, ist vor gut zwanzig Jahren Bankrott gegangen, doch noch immer prägen die Schlote das Bild der Stadt im Nordosten der USA. Am östlichen Ende des „Rust Belt“, wie die Gegend wegen ihrer Industrieruinen genannt wird.

Der Fotograf Alec Soth (gesprochen mit langem „o“, wie das englische Wort „both“) hat beide „Friedhöfe“ auf dem Bild „Bethlehem, Pennsylvania, 2019“ vereint. Es ist noch bis zum 4. September im sogenannten Art Lab der Stiftung Reinbeckhallen zu sehen, als Teil der Ausstellung „A Pound of Pictures“. Die Schau spannt so eine gedankliche Brücke von Neuengland bis nach Oberschöneweide: vom Gelände der Bethlehem Steel Corporation zum ehemaligen Areal der AEG, wo die Reinbeckhallen zu finden sind.

Alec Soths Motive täuschen den Betrachter

Auf den ersten Blick macht die Fotografie nicht viel her. Im Vordergrund ein Van mit geöffneten Türen, dahinter schichtweise: der sanft abfallende Hang des Friedhofs mit seinen versprengten Grabsteinen, eine geduckte Häuserzeile mit Veranden und schließlich die Fabrik mit Schornsteinen, jeder Menge Rohre und teilweise ungedeckten Hallendächern. Und doch lässt sich an ihr ablesen, wie der 1969 in Minneapolis geborene Fotograf arbeitet.

Soths Werke scheinen in ihrer klaren Ästhetik verführerisch zugänglich. Doch der Eindruck täuscht. Die Werke fordern Aufmerksamkeit und Muße, damit sie ihre Bedeutungsebenen freigeben. Man muss die Motive im Geiste schwenken wie ein Goldwäscher seine Schale. Im Fall von Bethlehem sedimentieren sich so verschiedene Schichten heraus: die Geschichte der USA, ihrer Industrie, die der Fotografie (am selben Ort hat Walker Evans 1935 ein berühmtes Bild gemacht), aber auch der Entstehungsprozess einer Aufnahme selbst, das Reisen, um ein Motiv zu finden, und, und, und.

Alec Soth fotografiert mit einer Großformatkamera. „Philadelphia, Pennsylvania“ nennt er dieses Bild.Foto: Alec Soth

Es ist ein ganzes Gewirr gedachter roter Fäden, das die Arbeiten von „A Pound of Pictures“ zusammenhält. Sowohl jene 66, die der Künstler in dem gleichnamigen Fotobuch von 2022 versammelt, als auch jene 20, die Kuratorin Candice M. Hamelin für die Schau daraus ausgewählt hat. Im Buch erweist sich Alec Soth als mitteilungsfreudig, er stellt zu vielen seiner Bilder kurze Texte. Man hat das Gefühl, dieser Künstler will, dass sein Publikum versteht, was er tut und warum er es tut. Das Erklären wird gewissermaßen zum Teil seines Schaffens.

Man muss die Bilder im Geiste schwenken

Die Ausstellung emanzipiert sich vom Buch, indem Kuratorin Hamelin darauf verzichtet, die erläuternden Zeilen neben die Fotografien zu stellen. Lediglich ein kompakter Eingangstext weist einem den Weg in die Schau, dann ist man allein mit den großformatigen Arbeiten, die luftig im hohen Raum des Industriekomplexes hängen. Darin liegt ein Angebot an die Besuchenden, Bezüge zu finden, die erst im eigenen Erfahrungsraum zu klingen beginnen. Es schwingt aber auch die Gefahr mit, dass alles stumm bleibt, wenn man Soths scheinbar so eindeutige Werke betrachtet.

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Manche der zwischen 2018 und 2021 entstandenen Fotografien muten fast wie Schnappschüsse an: Da strecken sich sommerliche Ranken in die zarten Wolken über „Fort Worth, Texas“, und ein braun-weißer Schmetterling verharrt in „Philadelphia, Pennsylvania“ auf einem Stück Orange. Doch Soth fotografiert mit Großformatkamera – einem jener stativgestützten Ungetüme, die man aus alten Filmen kennt. Da braucht jede Aufnahme Zeit und Ruhe, sowohl zum Aufbauen als auch zum Belichten. Das Ergebnis ist technisch unmittelbar beeindruckend. Man kann an diesen Schmetterling aus Philadelphia so nah herangehen, wie man will: Das Bild bleibt bis ins kleinste Detail gestochen scharf. Vom leicht zerrupften Flügel bis zur Maserung des Holzes dahinter.

Auf den Spuren von Lincolns Leichnam

Soth zeigt sich auch selbst auf einer Arbeit, halb verborgen von der aufgestellten Kamera. Über einen Spiegel an der Wand fotografiert er in ein Hotelzimmer hinein: Der Künstler am linken Bildrand, rechts seine Tochter Carmen im Bett, unterhalb eines Grand-Canyon-Bildes von Ansel Adams. Dem Titel von Soths Arbeit zufolge – „Carmen. Williams, Arizona, 2019“ –, ist die Aufnahme unweit des tatsächlichen Grand Canyons entstanden. Aber anstelle des Naturdenkmals zeigt Soth lieber eine legendäre fotografische Entsprechung und illustriert gleichzeitig die Umstände seiner eigenen fotografischen Exkursion.

Zu Beginn seiner Arbeit an „A Pound of Pictures“ folgte er dem Weg, den der Leichnam Lincolns nach dessen Ermordung im Jahr 1865 zurückgelegt hatte – von Washington, D.C., bis in Lincolns Heimat in Springfield, Illinois. Aus dieser Reise in die Vergangenheit sollte eine Bestandsaufnahme der gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft in der Gegenwart entstehen. Das Ergebnis befriedigte Soth nicht, also änderte er seinen Fokus und machte das Reisen selbst zur treibenden kreativen Kraft des Projekts.

Gleichzeitig bewegte er sich auf den Spuren früherer Kolleg:innen, besuchte andere noch aktive Fotografen und Fotografinnen, Kamera-Klubs und Sammler:innen. Auch solche, die ein eher profanes Verhältnis zum Metier haben. Ein Flohmarktverkäufer bot ihm Bilder zum Pfundpreis an, daher der Titel von Buch und Schau. Als „Pound“ bezeichnet man im Englischen allerdings auch einen heftigen Schlag. „A Pound of Pictures“ – da wabert die gedankliche Wucht mit, die Fotografien beim Betrachten nach außen tragen können.

[ Reinbeckhallen, Art Lab, Reinbeckstraße 11, bis 4. 9. , Donnerstag, Freitag 16–20 Uhr, Samstag, Sonntag 11–20 Uhr]

Soths Arbeiten sind eher solche der schleichenden Wirkung. Seit 14 Jahren ist er Mitglied der renommierten Agentur Magnum Photos, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert. Zu diesem Anlass zeigt die Stiftung Reinbeckhallen ab 2. September die Ausstellung „Jetzt: Magnum Photos“, für die auch Werke von Soth eingeplant sind. Sie werden dort erneut ihre Fühler ausstrecken zu den Fotografien um sie herum. Wieder eine neue Nachbarschaft, wieder ein neues Gewirr von Bezügen. Man muss es nur zulassen, sich auch zu verstricken.