Wie misst man die Stille?
7. August 2022
Ich musste es wissen, also googelte ich gerade und habe festgestellt, die Zahl ist viel höher, als ich dachte – 2055 Städte gibt es in Deutschland! Umso spannender finde ich, dass das Schicksal mich mit einem meiner ersten Konzerte ausgerechnet nach Weimar schickte.
1999 war Weimar die Kulturhauptstadt Europas, ich durfte beim Sommerfestival spielen und dazu noch den Veranstaltern eine Band aus der Ukraine empfehlen, die dann tatsächlich eingeladen wurde – diese Freunde von mir haben vor und nach dem Weimarer Auftritt nur in Charkiw gespielt, der Ausflug nach Deutschland blieb in der Bandgeschichte Höhepunkt der internationalen Karriere, an den sie sich heute noch erinnert.
Freunde schwärmten mir vom Yiddish Summer Weimar vor
23 Jahre später bin ich wieder hierher eingeladen, diesmal im Rahmen von Yiddish Summer Weimar, einem der wichtigsten und spannendsten Festivals der jüdischen Kultur weltweit. Ich habe schon so oft und so viel darüber von meinen Musikerfreund*innen gehört, die jeden Sommer mehrere Wochen hier verbringen, jedoch ist es das erste Mal, dass ich es persönlich miterleben darf.
Ganz kurz, für einen halben Tag, war ich bereits Ende März in Weimar. Es war die Vorstellung meines Buches über die Suche nach dem neuen jüdischen Sound Deutschlands, die in der Other Music Academy stattfand, wo sich das Team von Yiddish Summer spontan entschlossen hat, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen. Heute höre ich, in Weimar seien 1000 von ihnen untergekommen.
„Songs for Babyn Yar“, unsere theatralisch-musikalische Produktion, die wir letztes Jahr in Berlin und London entwickelt haben, feiert am Samstag in Weimar ihre deutsche Premiere. Letztes Mal haben wir es in Kiew im Dezember 2021 aufgeführt. Eigentlich gar nicht so lange her, aber seitdem ist so viel passiert!
Das Stück ist hochaktuell
Am Freitagvormittag lädt unsere Regisseurin Josephine Burton Mariana Sadovska, Sveta Kundish und mich ein, vor der Probe zu überlegen, ob und wie wir eventuell unsere Monologe auf der Bühne ändern sollten. Daraus wird ein langes Gespräch. Da wir alle drei aus der Ukraine kommen und die Verbindung zu unserer Heimat in den letzten Monaten stärker als je spüren, möchten wir auch darüber sprechen, wie anders es jetzt ist – und wie Themen, die, wie wir dachten, eher der Vergangenheit angehören, plötzlich hochaktuell sind – und damit auch unser Stück.
Aber dürfen wir in etwas eingreifen, was wir monatelang mit solchem Aufwand zusammen aufgebaut haben? Und wenn ja, sollten wir es tun? Oder lässt man am besten alles doch so stehen, wie es ist, und lässt die Zuschauer ganz allein darauf kommen, wie manches davon, was auf der Bühne erzählt wird, mit der heutigen Situation mitschwingt? Wir diskutieren lange und entscheiden, kleine Ergänzungen zuzulassen, weil es sich sonst für uns alle falsch anfühlen würde.
Geschichte wird oft manipuliert
Wenn ich meine Heimatstadt Charkiw erwähne, kann ich nicht darüber schweigen, dass es seit dem 24. Februar dieses Jahres kaum einen Tag gegeben hat, an dem dort nicht bombardiert wurde. Aber unter unseren Texten gibt es auch solche, die sich heute fast wie Prophezeiungen anhören, vor allem die Stelle, wo Mariana betont, wie wichtig es sei, eigene Geschichte mit all ihren dunklen Seiten zu akzeptieren und sich damit auseinander zu setzen, damit sie nicht wieder von den anderen manipuliert wird …
Mariana, Sveta und ich sprechen unter uns auf Ukrainisch und sonst hauptsächlich Englisch, damit auch die britischen Kolleginnen uns verstehen. Zum Yiddish Summer Weimar sind viele Gäste aus anderen Ländern angereist, und wenn man sich (noch) nicht auf Jiddisch verständigen kann, dann unterhält man sich eben auf Englisch und so fällt mir erst bei unserer Vorstellung ein, dass wir „Songs for Babyn Yar“ zum ersten Mal vor deutschem Publikum spielen. Und die Stille im Raum in diesen neunzig Minuten ist ganz anders, als sie letztes Jahr bei Vorstellungen in London und in Kiew war. Den Lärm misst man in Dezibel, aber kann man auch die Stille messen?, frage ich mich.