Die Schatten des früher Gesagten
Was ist schon die Gegenwart. Die schnelle Zigarette draußen in der Regenpause eines Juli-Anfangs in Corona-Zeiten. Oder die Erinnerung, die sie beim Sinnieren heraufbeschwört. Krieg und Kriegsende in Erfurt, bevor es mit dem Vater wieder nach Köln zurückging. Oder der akute Ärger mit dem Auto, das der TÜV in die Werkstatt schicken ließ. Jeder noch so kurze Moment hat einen anderen im Schlepptau, und je länger ein Leben dauert, desto mehr überlagern sie einander und umso schwieriger fällt es, sie auseinanderzuhalten.
Vielleicht wird auch deswegen im poetischen Werk von Jürgen Becker so fleißig geraucht: auf den über tausend Seiten seiner von der vier Jahrzehnte jüngeren Dichterin Marion Poschmann herausgegebenen „Gesammelten Gedichte“ insgesamt 34-mal, was gemessen an den 69 Erwähnungen seiner Lieblingschiffre, der Pappel, eine ansehnliche Zahl ist. Die Zigarette als Inbegriff des Werdens und Vergehens in drei Minuten – und als Symbol eines Schreibens, das dem Zauber des ersten Mals nicht weniger nachspürt als der Genugtuung des hundertsten. „Eine Erinnerung wiederholt sich“, heißt es in seinem jüngsten Gedichtband „Die Rückkehr der Gewohnheiten“, „aber sie scheint sich / verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.“
Jürgen Becker, einer der letzten Überlebenden der Gruppe 47, ist der größte Erinnerungskünstler der deutschen Literatur. Auch dafür erhielt er 2014 den Georg-Büchner-Preis. Ein Schriftsteller, der als Erzähler und Hörspielautor, vor allem aber als Lyriker mit einem Faible für das Langgedicht die Mechanik von Bewusstseinsprozessen in Theorie und Praxis ergründet – und das mit einer Sinnlichkeit, die alles, was sie als innere Bewegung andeutet, ganz aus den Details der äußeren Welt gewinnt: „Später Sonntagnachmittag; still und warm / steht zwischen den Vogelbeeren die Luft. Das Summen / hinter den Büschen sagt mir, dass es / ein Jenseits gibt, von dem ich nicht mehr mitbekomme / als ein Geräusch.“
Das Geheimnis von Beckers „Chronik der Augenblicke“ versteckt sich an der Oberfläche, und sosehr man sich auf ihr Zeiten und Räume im Handumdrehen eines Zeilenbruchs durchquerendes Wuchern einlassen muss, das wie das Wurzelwerk eines Baumes unter allen Hindernissen hindurchkriecht und jeden noch so sorgfältig verlegten Gehweg aufsprengt, so wenig Mühe kostet es, die Methoden und Perspektiven von Beckers Schreiben nachzuvollziehen. Die zumeist von ihm selbst (und manchmal von seiner früheren Lektorin Elisabeth Borchers) geschriebenen Klappentexte, die sich im Anhang zu den „Gesammelten Gedichten“ finden, enthalten ein gutes Stück seiner Poetologie.
Wuchernder Erinnerungsstoff
Der 90. Geburtstag, den er an diesem Sonntag wach und neugierig begeht, ist kein Alter für einen Schriftsteller, dessen Texte die Spuren eines ganzen Jahrhunderts und darüber hinaus festhalten wollen. Es zeugt zunächst nur von einem sich Jahr um Jahr weiter anreichernden Erinnerungsstoff, dessen persönliche wie historische Schichten der Autor nur Jahr um Jahr neu sortieren muss.
Zugleich bildet die eigene, durchaus zum Thema gemachte Endlichkeit, die größte Bedrohung dieser nach allen Richtungen offenen, tendenziell unendlichen Textgeflechte aus Protokolliertem und Assoziiertem.
Wie eh und je mischen sich die Nachrichten des Tages in Beckers hierarchielose Mitschrift des Wirklichen. Wo er einst den Wetterbericht des Tagesspiegels zitierte, finden heute die Pandemie und die postkoloniale Umbenennung von Straßen Eingang.
Gerade an den jüngsten Gedichten lässt sich aber ablesen, wie diese über sich und ihre Zeit hinauswollen: „ – bis wohin / der Atem reicht und kürzer jeder Weg wird, wir / gehen, soweit wir kommen, erleichtert, kein Ziel / vor Augen zu haben.“ Sie sind an ein Bewusstsein gebunden, das mit seinem Verlöschen rechnet, aber jede Zeile auch als Einspruch gegen den Tod versteht: „Die Zusammenhänge sind / wie Gestrüpp, das nicht aufhört, weiter / zu wuchern. Zum Entwirren brauche ich mehr Zeit, / als wir haben, unabhängig von Dingen wie Geld und / wie lange es reicht.“
Mit zunehmendem Alter lässt Becker in seinen Gedichten auch erkennen, wie sehr sich Erinnerung erst im Schreiben bildet. Es ringt mit dem nur vage Erinnerten und halb Vergessenen und hat deshalb eine fiktive Seite. Schon im letzten Band „Graugänse über Toronto“ hieß es: „Die Erinnerung an etwas, das in den Erinnerungen nicht vorkommt; Graugänse über Toronto.“
Das Gedächtnis und seine Fallstricke
Nicht auszuschließen ist auch, dass Becker die vermeintlich akkurate Erinnerung an Stellen Streiche gespielt hat, wo er es niemals vermuten würde.
Bei allem Sinn für die Überprüfbarkeit von Daten und Fakten, zeigt Becker jedenfalls, dass sich Tatsächliches und Imaginäres in den eigenen Erinnerungskammern oft nicht klar auseinanderhalten lassen: „Orte gibt es, die man erfinden muss / wenn man sie wiedersehen will“.
Im Wahrnehmungsgetriebe dieser Texte herrscht ein Hin und Her zwischen unterschiedlichen Instanzen. Es gibt ein unvermittelt autobiografisches Ich, das Becker als Einfallstor für die Konstruktion seiner Erfahrungsräume dient. Ein Du, mit dem es sich selbst anspricht oder ein Gegenüber sucht. Ein Wir, das sich als Teil einer Generation begreift. Ein Man, das schon auf eine überpersönliche Erfahrung zielt. Und ein von jeder bewusst handelnden Subjektivität freies Es, das oft nicht einmal als solches in Erscheinung tritt, sondern sich in passivischen Konstruktionen versteckt und den Dingen das Sagen überlässt: der schleichenden Veränderung von Landschaft und Stadtarchitektur, die er seit Jahrzehnten von seiner Wohnung in Köln und seinem Landsitz im Bergischen Land an „Odenthals Küste“ aus beobachtet.
[Jürgen Becker: Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte. Suhrkamp, Berlin 2022. 76 Seiten, 20 €. Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte. 1971 – 2022. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne, Fotos von Boris Becker und einem Nachwort von Marion Poschmann. Suhrkamp, Berlin 2020. 1120 Seiten, 78 €. Helmut Heißenbüttel, Jürgen Becker: Korrespondenzen. Herausgegeben von Thomas Combrink. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2020. 126 Seiten, 14,80 €.]
Die entscheidendste Veränderung erfuhr sein Schreiben, als er wieder an die Orte seiner Kindheit in Erfurt reisen konnte. Schon ein Jahr, bevor die Mauer fiel, hatte er „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ veröffentlicht, eine fünfsätzige Suite, die sich aus der Kölner Bucht nach Thüringen hinüberträumt. In „Foxtrott im Erfurter Stadion“ untersuchte er 1993, was von seinen Erinnerungen übriggeblieben war. Seitdem dürfte es keinen deutschen Autor geben, der die Teilungsgeschichte von Ost und West im Atmosphärischen so ausgeleuchtet hat wie er.
Als „Journalroman“ bezeichnete er zuletzt Prosabände um sein Alter Ego Jörn Winter wie „Schnee in den Ardennen“ oder „Jetzt die Gegend damals“, dessen Titel die für Becker typische Spannung von Gegenwart und Vergangenheit am Beispiel topografischer Merkmale treffend benennt. Mit den „Graugänsen über Toronto“ kam das erste „Journalgedicht“ hinzu, eine Bezeichnung, die nun auch wieder „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ für sich in Anspruch nimmt.
Fortsetzung eines Selbstgesprächs
Kein Anfang, nein, ein unvermitteltes Hineingleiten im Partizip Präsens nach einem Gedankenstrich: „ – fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt / aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine / von etwas, das man Kontinuum nennt. // Regenfelder, Februar / fängt an; tagsüber Licht in den Häusern. / Ob man es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.“ Damit nehmen die Überblendungen, Überschreibungen und Wiederholungen als Wieder-Holungen ihren Ausgang. Mit Marion Poschmann ließe sich behaupten, dass sie die Grundlage eines lyrischen Schreibens bilden, das sich zu einem einzigen großen Poem formiert.
Die Veränderungen lassen sich am ehesten im Blick auf einen frühen Mentor, Weggefährten und schließlich Freund, den elf Jahre älteren Helmut Heißenbüttel zeigen, der wie später Becker selbst sein Geld als Rundfunkredakteur verdiente. Becker hat die vornehmliche Beschäftigung der Sprache mit sich selbst in einen welterzeugenden und weltverinnerlichenden Bereich ausgedehnt, in den ihm Helmut Heißenbüttel nicht mehr folgen wollte.
Man kann Beckers Aufbruch ins Subjektive, der doch nie so weit ging wie beim empfindsamen Peter Handke oder bei Nicolas Born, in dem aufschlussreichen Band „Korrespondenzen“ verfolgen: persönlich Adressiertes, aber auch Literaturkritisches, das sich um nüchterne Distanz bemüht.
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Schon in den „Graugänsen“ beschrieb sich Becker als analoges Fossil: „du musst dein Medium ändern; entscheide dich / für ein soziales Portal … ohne Faber-Castell in der Hand / fällt mir aber nichts ein. Draußen bellt der Hund schon wieder. Morgens heiße Milch mit Honig.“ Tatsächlich arbeitet er bis zum heutigen Tag ausschließlich mit Stift und Schreibmaschine.
Zu sagen, dass die Mitschrift der Wirklichkeit heute eben auf Facebook, Instagram oder TikTok stattfindet, wäre aber nur die halbe Wahrheit. Die Art der erinnernden Selbstvergewisserung, die Becker betreibt, ist ganz und gar an das Medium der Schrift gebunden, auch da, wo sie starke Bilder erzeugt. Wer sich auf sie einlässt, dem können ganz ohne Jürgen Beckers latent kulturkritische Haltung auch im buntesten Geflirr noch die Augen übergehen.