Billie Eilish lässt Berlin ausflippen
Die Frage nach dem Kreischfaktor ist nach wenigen Sekunden geklärt: Billie Eilish hat noch nicht einmal die Bühne betreten, lediglich ein paar Lichteffekte zucken durch die Halle, und schon erzeugt die Menge infernalische Dezibelstärken. Es hat sich also nichts geändert, seit die Sängerin aus Los Angeles – noch als Teenager – vor drei, vier Jahren ihre ersten größeren Tour-Auftritte in Europa absolvierte.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Inzwischen ist sie 20, hat einen Sack voll Grammys eingesammelt, einen Oscar ebenfalls. Mehr als 100 Millionen Menschen folgen ihr auf Instagram, 45 Millionen bei Youtube. Rund 17.000 von ihnen haben innerhalb kürzester Zeit dafür gesorgt, die Mercedes-Benz-Arena in Berlin auszuverkaufen und schreien sich nun ihr Glück von der Seele. Diese Art der Beatles-Mania-haften Ekstase entfacht derzeit außer Billie Eilish wahrscheinlich nur noch die K-Pop-Sensation BTS.
Wie ein Gummiball hüpft Billie Eilish über die Bühne
Und so überlässt die Sängerin, die mit einem kraftvollen Sprung aus einer Bodenvertiefung auf der Bühne erscheint, den Zuschauer*innen große Gesangsanteile der ersten Songs – man würde sie ohnehin kaum verstehen. Der Auftakt ist überwältigend, die Scheinwerfer und Laser flackern mit voller Power, Billie Eilish hüpft in ihrem Schwarz-Weiß-Outfit wie ein Gummiball herum, die Bässe lassen den Beton erzittern. Bei „NDA“ lösen die kleinen aufsteigenden Keyboard-Motive unter den drängenden Beats Freudenschreie bei den mehrheitlich jungen weiblichen Fans aus.
Sie haben sich ein Idol gesucht, das vor allem zu Beginn seiner Karriere immer ein bisschen anders getickt hat als die vielen durchformatiert wirkenden Pop-Stars des 21. Jahrhunderts. Weite Klamotten, bunte Haare, nicht unbedingt mit einem Lächeln auf den Lippen, dafür prägnante Texte über teenage angst, Selbstermächtigung und Liebeskummer, die auch ältere Menschen nachvollziehen können.
Eindeutig an die jugendliche Mehrheit im Saal sind allerdings Billie Eilishs zahlreiche Ansprachen gerichtet, in denen sie wiederholt nach dem Befinden der Menge fragt – und den ersten Reihen gegen Ende sogar Wasser von der Security bringen lässt.
Die Sängerin hat sichtlich Spaß daran, die Fans ständig zu neuen Kreisch- und Hüpfhochleistungen anzustacheln. Sehr schön auch eine von ihr initiierte Handyleuchten-La-Ola, die wie ein Glühwürmchenschwarm durch die Arena wabert. Ein DIY-Lichteffekt inmitten einer High-Tech-Show – so stellt man Nähe her. Um im nächsten Moment wieder alle Möglichkeiten des imposanten Set-Ups auszureizen. Man kann ja über die Mehrzweckhalle am Ostbahnhof sagen, was man will, aber für ein Spektakel wie dieses ist sie einfach perfekt geeignet.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de]
Im hinteren Teil der Bühne befinden sich vor einer riesigen Projektionsfläche zwei auf- und abfahrbare quadratische Podeste, auf denen rechts ein Drummer und links Billie Eilishs Bruder Finneas postiert sind. Dazwischen gibt es eine schräge Fläche, die in die dreieckige Vorderbühne mündet, von der ein schmaler Laufsteg in den Innenraum führt – das alles wird mit ständig wechselnden Farben und Formen beleuchtet.
Billie Eilish ist ununterbrochen unterwegs auf dieser großen Fläche, wobei sie gern ihre mit hochgezogenen Knien ausgeführten Auf-der-Stelle-Hopser zeigt. Wahrscheinlich würde sie sogar noch intensiver herumspringen, doch die schwarzen Tapestreifen an ihren Schienenbeinen – diese machen ihr schon seit Langem zu schaffen -, zeigen an, dass ihr Körper noch mehr Wildheit nicht zulässt.
Die etwa hundertminütige Show wird immer wieder abgebremst, am deutlichsten nach der Hälfte der Show, als sich Billie Eilish und Finneas mit Akustikgitarren in die Bühnenmitte setzen. Es ist das einzige Mal, dass ihr fünf Jahre älterer Bruder, mit dem sie alle ihre Songs schreibt, die er zudem produziert, etwas sagt. Mehr als ein „Hi!“ wird es allerdings nicht.
Dafür erklärt Billie, dass sie nun einen ihrer Lieblingssongs spielen werden. Gerade jetzt angesichts der niederschmetternden Entscheidung des Supreme Court bedeute ihr das Stück besonders viel. Sie beginnt, den Rhythmus von „Your Power“ zu schlagen, Finneas gibt die Melodielinie vor, der ihr Gesang folgt. „Try not to abuse your power“ lautet die zentrale Zeile, die auf eine Missbrauchssituation hindeutet, genau wie der später folgende Satz „Will you only feel bad when they find out“.
Die Dringlichkeit von MeToo wird nach der Abtreibungsverbotsentscheidung, die Eilish im folgenden neuen Song „TV“ noch einmal explizit erwähnt, eher noch wachsen als abnehmen. Es ist der nachdenklichste Moment in einem ansonsten von positiver Energie getragenen Konzert. Für einige Songs lässt sich die Sängerin auf einer Hebebühne im hinteren Hallenteil herumkreiseln, ein Hauch Neuköllner Maientage kommt auf, fehlt nur der Ansager, der das Fahrgeschäft anpreist.
Alte und neue Stücke funktionieren gleich gut
Billie Eilish und ihre Miniband spielen eine ausgewogene Mischung aus Songs von ihrem Durchbruchsalbum „When We Fall Asleep, Where Do We Go“ und von dem im vergangenen Sommer veröffentlichten „Happier Than Ever“. Das Publikum begrüßt die alten und die neueren Stücke mit gleich großem Enthusiasmus – und sie funktionieren tatsächlich auch alle gleich gut.
Ein Highlight ist „You Should See Me In A Crown“, das massiv in die Magengrube knallt, wozu eine Spinne im XXL-Format auf der Leinwand auftaucht – ein Gruß aus dem Videoclip. Bestens in die Party passen zudem „Oxytocin“ mit dem Timbaland-artigen Hüpfbeat und später „Lost Cause“ mit der prägnanten Bassline, die Finneas ganz zum Schluss des Stücks kurz auf dem Catwalk präsentiert.
Das Ritual des Von-der-Bühne-Gehens, um für die Zugaben wieder aufzutauchen, spart sich Billie Eilish. Sie hält lieber eine kurze Abschiedsrede, in der sie nochmal ihre Liebe für das Publikum beteuert, und lässt dann ihren Überhit „Bad Guy“ von der Leine. Konfettiregen und das epische „Happier Than Ever“ beenden einen feinen Abend, an dem sicherlich auch einige Erwachsenen innerlich ein bisschen gekreischt haben.